Die Kunst der Woche: Im Kräftefeld entfacht
Ingar Krauss' Porträtfotos erkunden, wie wir in Erscheinung treten. Kerstin Drechsels meisterliches Kartenhaus steckt voller heikler Botschaften.
This Is Not a Fashion Photograph“ hat Candice Hamelin die von ihr bei Jaeger Art kuratierte Ausstellung mit den absolut großartigen – teils schon lange berühmten, teils noch nie gezeigten – Porträtfotografien von Ingar Krauss genannt. Ein kluger, ironischer Titel. Denn die Geschichte des Porträts beginnt in seiner Frühform als mittelalterliches Stifterporträt eindeutig als Modebild, identifizierte man damals eine Person doch über die Kleidung, die ihren Status anzeigte, und nicht über ihre Physiognomie.
Und selbst wenn sich das Porträt im Lauf der Kunstgeschichte zum realistischen Abbild und schließlich zur Charakterstudie entwickelte: Die Kleiderfrage bleibt. „Das fotografische Portrait ist ein geschlossenes Kräftefeld“, sagt Roland Barthes. „Vier imaginäre Größen überschneiden sich hier, stoßen aufeinander, verformen sich. Vor dem Objektiv bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der, für den der Fotograf mich hält und der, dessen er sich bedient, um sein Können vorzuzeigen.“
Und es ist eben die Kleidung, in der sich die Porträtierten als die zeigen, für die sie sich halten oder für die sie gerne gehalten werden möchten. Oder für die sie gehalten werden sollen.
Womit man direkt bei den s/w-Porträts ist, die Ingar Krauss 2003 von einigen halbwüchsigen Jungen und Mädchen in den russischen Strafkolonien Alexin und Rjazan gemacht hat. Alle tragen die ähnlich dunkle Anstaltskleidung, die sie als Gefangene ausweist. Aber sie alle tragen sie in unterschiedlicher Haltung, mit trotzigem Stolz, beiläufig und selbstvergessen, andere lassen selbst darin ihren Charme spielen oder zeigen einen gewissen Chic.
Und so macht sie Ingar Krauss in seinen Porträts als eigensinnige Individuen sichtbar, ob sie es wollen oder nicht. Darin liegt denn auch das Bezwingende von Ingar Krauss' Porträtkunst, des Könnens, das vorzuzeigen, wofür der Fotograf nach Roland Barthes seine Modelle braucht: Ob straffälliger Jugendlicher, ob freundlicher Bürger der italienischen Provinzstadt Reggio Emilia, ob machohafter Wanderarbeiter in Brandenburg oder melancholischer Herrenschneider in Kienitz im Oderbruch – der Fotograf macht jeden seiner Protagonisten als schönen Menschen kenntlich, als den seelenvollen Menschen, den er in ihm sieht.
Gerade der elegante Herrenschneider, der sich mit größter Sorgfalt gekleidet hat – nein, sein Porträt ist keine Modefotografie, es ist ein Andachtsbild.
Kreuzstich in jede Richtung
Die berühmte Kreuzstichstickerei, rot auf weißem Leinen, beherrscht den Raum bei Zwinger. Überall scheinen die Tücher zu hängen. Doch statt stilisierter Herzen und Tauben mit dem Friedenszweig im Schnabel sind verstörende Sätze wie „Flennen war an der Tagesordnung“ rot auf weiß gestickt. Wobei nichts gestickt ist, schon gar nicht auf Stoff; alles wurde gedruckt, auf weiß grundiertes Holz. So aufwändig war der Siebdruck, mit den Rottönen, die wie bei echter Stickerei mal eher blass, mal kräftig, in bläulich schattiertem Tiefrot erscheinen, dass in der Galerieinfo dem Drucker besonders gedankt wird.
Ingar Krauss: This Is Not a Fashion Photograph. Jaeger Art, bis 22. Juni, Mi.–Sa. 12–18 Uhr, Brunnenstr. 161
Kerstin Drechsel: Penatenhimmel. Zwinger Galerie, bis 15. Juni, Di.–Sa. 12–18 Uhr, Mansteinstr. 5
Kerstin Drechsels raumgreifende Installation ist meisterlich. Komplex in der Anlage, perfekt im Detail und verstörend in der Aussage. Die Galerie scheint in ein überdimensioniertes Kartenhaus verwandelt, durch die riesigen, schräg an die Wände gestellten und schräg von der Decke hängenden Texttafeln. Dazwischen schieben sich, in Vierer- oder Fünferblocks gehängt, kleine Leinwände mit rätselhaften Szenen in grandioser Farbigkeit in Öl und Acryl.
Und schließlich liegen am Boden verstreut kleine Betonbrocken, die an Stahlhaken befestigte sind. Die Installation habe Beton gebraucht, sagt Kerstin Drechsel. Und so stecken nun im Beton die Penaten. Römische Hausgötter, die – in Geschlecht und Wesen offen – immer zu zweit oder zu dritt auftreten und hier nun der Ausstellung ihren Titel „Penatenhimmel“ geben.
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Dieser „Penatenhimmel“ ist nun so gelungen, dass man den Blick zunächst davon gar nicht abwenden und sich den vermeintlich gestickten Texten zuwenden will. Aber vielleicht spürte man es schon beim ersten, flüchtigen Lesen, dass es heikel werden wird, ambivalent.
Dass es ums Heranwachsen geht, um das Zurechtfinden in die Welt, das Zusammenfinden im Jugendclub, der hier christlich organisiert ist, mit den bekannten übergriffigen Missverständnissen und Manipulationsmöglichkeiten, aber auch dem rebellischen Aufbegehren in Sachen Sexualität. Und deshalb ist „Friedensgruß wird Zungenkuss“ mindestens doppelt zu lesen. Einmal als übergriffig, wenn die Zunge dem Pfarrer gehört, und einmal als emanzipatorisch, wenn sie die der heißgeliebten Freundin ist.
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