Film „The Last to Leave Are The Cranes“: Heimat ist ein Flickenteppich
In „The Last to Leave Are The Cranes“ schickt die Hamburgerin Emilie Giradin eine junge Chilenin auf die Spuren ihrer Familiengeschichte nach Polen.
Emilie Giradin hat einen Schweizer Vater, ihre Mutter kommt aus Schlesien, das mal deutsch war und heute größtenteils in Polen liegt. Sie ist in der Schweiz aufgewachsen, hat in Spanien Theaterwissenschaften studiert und lebt inzwischen in Hamburg. Mo und Nati wiederum, die Protagonistinnen von Girardins Spielfilm „The Last to Leave Are the Cranes“ sind junge Chileninnen. Die eine ist nach Deutschland ausgewandert, die andere reist nach Polen, weil ihre Vorfahren von dort kommen; sie hofft, dadurch selbst an die polnische Staatsangehörigkeit zu gelangen.
Mehr Informationen über Herkunfts- und Aufenthaltsländer lassen sich kaum sinnvoll so wenigen Worten unterbringen – aber von genau solch einem Flickenteppich aus persönlichen Verbindungen zu Ländern und Ethnien erzählt Emilie Giradin in ihrem halb fiktiven, halb dokumentarischen Roadmovie.
Nati ist Chile fremd geworden und sie kommt zum ersten Mal nach Europa, um dort ein anderes Land zu finden, in dem sie vielleicht besser leben kann. Ihr Urgroßvater stammt aus Schlesien, und obwohl sie kein Wort Polnisch versteht, will sie Polin werden. Bei der „Schatzsuche“ nach Belegen, mit denen Nati hofft beweisen zu können, dass sie im Grunde aus Polen stammt, hilft ihre alte Freundin Mo. Die glaubt, ihre eigenen Schlachten – mit den deutschen Einwanderungsbehörden – schon hinter sich gebracht zu haben.
Dieses Handlungsgerüst, denn mehr soll es auch gar nicht sein, nutzt Giradin: Anhand der zahlreichen Begegnungen, die die beiden jungen Frauen auf ihrer Reise machen, erzählt ihr Film davon, wie kompliziert und porös nationale Identitäten heute geworden sind.
„The Last to Leave Are The Cranes“. Regie: Emilie Giradin, mit Natalia Miranda und Morin Gonzáles u. a., Deutschland 2020, 65 Minuten
So zeigt sie etwa in einer langen, dokumentarischen Einstellung eine Gruppe von jungen Männern in Schlesien, die nachts unter einer Brücke rappen. Hip-Hop sei seit den 1990er-Jahren in Polen sehr populär und vor allem Schlesien habe für sie „Detroit Vibes“, sagt sie im Gespräch mit der taz. Wobei die einstige US-Autobau-Metropole, Heimat etwa des Rappers Eminem, lange vor allem für Niedergang und vermasselten Strukturwandel stand.
Es ist kein Zufall, sondern vielmehr bezeichnend, dass die meisten Gespräche im Film in Zweitsprachen gehalten werden. Nur wenn Nati und Mo allein miteinander reden, können sie dies in ihrer Muttersprache tun, Spanisch – mit allen anderen sehen wir sie auf Englisch oder Französisch kommunizieren. Und dabei entstehen Unschärfen, weil keine*r der Beteiligten diese Sprachen perfekt beherrscht.
Gedreht hat Emilie Giradin ihren nur etwas über eine Stunde dauernden Film ohne festes Drehbuch. Stattdessen hat sie Techniken der Schauspielführung aus ihrer Theaterarbeit weiterentwickelt: Natalia Miranda als Nati und Morin Gonzáles Mena als Mo sind die einzigen professionellen Darstellerinnen des Films.
Mit ihnen hat Giradin die Situationen eingeübt, in denen sie dann jeweils auf sich selbst mimende Laiendarsteller*innen treffen.So erklären sich auch die langen Einstellungen, bei denen die Kamera weiter weg bleibt als bei normalen Spielfilmen üblich: Die Situationen und Gespräche sollen möglichst natürlich wirken, die Lai*innen nicht irritiert werden, etwa durch aufdringliche Kameras oder die sonst so üblichen Wiederholungen von Einstellungen.
Mit dieser offenen Form der Inszenierung und des Erzählens bekommt Emilie Giradin im Film vieles von dem untergebracht, was sie bei ihren eigenen Recherchen erfahren hat von Freund*innen mit anderen Migrationserfahrungen. So kommt auch eher eine episodenartige Struktur heraus, kein großer dramaturgischer Bogen. „The Last to Leave Are The Cranes“ wirkt tatsächlich wie eine Reise mit überraschenden Entdeckungen und Hindernissen und geerdet wird er durch das herzliche, freundschaftliche Verhältnis zwischen Nati und Mo.
Doppelvorstellung mit „The Pawnshop“ von Lukasz Kowalski: 5. April, 19 Uhr, Hamburg, Metropolis-Kino
Einer der Gründe, warum Giradin diesen Film gemacht hat, war, dass sie von der deutsch-polnischen Geschichte erzählen wollte, sagt sie – und das aus einer „Außenperspektive“. So erfährt Nati etwa von einem polnischen Historiker, der dessen Geburtsurkunde gefunden hat, dass ihr Urgroßvater vielleicht gar kein Pole war, sondern Deutscher: Je nachdem, ob er sich in der Volksabstimmung im Jahr 1921 dafür entschieden hatte, Preuße zu bleiben oder Pole werden wollte.
Dadurch, dass dies bis heute einen entscheidenden Unterschied macht – die deutsche Bürokratie würde Nati noch größere Schwierigkeiten bereiten –, bekommt diese exemplarische Geschichtslektion im Film eine besondere Aktualität und Dringlichkeit: Dinge, die vor über hundert Jahren in einem so längst nicht mehr existierenden Schlesien passierten, können noch heute das Leben einer jungen Frau aus Chile beeinflussen.
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