Digitales Arbeiten: Die Pünktlichkeits-Pandemie
Zoom-Treffen haben das Verständnis von Zeit verändert und die Zusammenarbeit untereinander. Meetings werden oftmals zum Selbstzweck.
Z eit ist ein Element der Freiheit oder der Herrschaft. Die ersten mechanischen Zeitmessgeräte wurden von Mönchen erfunden, die ihren Tagesablauf genauer regeln wollten. Im 14. und 15. Jahrhundert verbreitete sich die Uhr dann in weiten Teilen Europas. „The Clockwork Self“ heißt ein schon etwas älteres Buch von Adam Max Cohen, das sich mit dem Aspekt der europäischen Disziplinierungsgeschichte befasst – das Ich als Uhrwerk.
Was das mit heute zu tun hat? Die Coronapandemie, die vor vier Jahren begann, und die staatlichen Eindämmungsmaßnahmen hatten auf den verschiedensten Ebenen gravierende Folgen: Allzu viele Menschen leiden immer noch unter den gesundheitlichen Folgen. Die Debatte über Homeoffice und eine grundsätzlich andere Perspektive auf Sinn und Wesen und Wert von Arbeit hält an. Die langfristigen psychischen Folgen, vor allem für Kinder und Jugendliche, treten immer deutlicher zutage. Die Innenstädte verändern sich, weil das Leben und auch das Shoppen immer digitaler werden. Manche sprechen auch schon von einer neuen Immobilienkrise, besonders Büros und andere kommerzielle Immobilien – und damit auch von einer neuen Bankenkrise.
Was sich aber auch verändert hat, ist die Beziehung von Menschen zur Zeit – so erlebe ich das jedenfalls. Durch die Zoom-Treffen, die sich während der Pandemie etabliert haben und die heute oft eins nach dem anderen stattfinden, back to back, wie man so sagt, ist eine Vorstellung von Pünktlichkeit entstanden, die wie eine digitale Variante der frühmodernen Klöster-Doktrin erscheint: Wie oft wurden denn vor der Pandemie Treffen mehr oder weniger auf die Sekunde hin begonnen? Gab es vor der Pandemie schon diesen inneren Druck, wenn man auch nur zwei Minuten zu spät zu einem Treffen erscheint? Was sind die Folgen dieser Art von digitaler Selbstdisziplinierung?
Mir scheint es, dass die technologischen (Selbst-)Kontrollmechanismen sehr rasch verinnerlicht wurden. Und dass sich mit der stummen Herrschaft über die Zeit etwas verändert hat, das mit dem Wesen der digitalen Techniken zu tun hat. Das digitale Zeitalter ermöglicht Anwesenheit über physische Grenzen hinweg – das hat viele Vorteile, aber auch deutliche psychologische Folgen. Es verändert, wie wir uns sehen, wie wir unsere Tage strukturieren, wie sich unser Leben reguliert. Im Alltag scheint es indes noch nicht ganz so angekommen zu sein. In der Arbeitswelt hingegen, so wie ich sie erlebe, hat das Folgen für die Art und Weise, wie „Meetings“ geführt und Zusammenarbeit organisiert wird.
Diese Veränderungen gehen über die Regulierung der Zeit hinaus, haben aber damit zu tun. Die digitalen Meetings etwa, die für viele Menschen nun ihre Arbeit prägen und der Auslöser der neuen Pünktlichkeits-Pandemie sind, Zoom oder Teams oder was sie eben nutzen, haben viele Vorteile, die auch performative Nachteile sind: Man kann durch die Technik sehr viele Treffen organisieren, die analog oder in Person nicht möglich wären und die sehr schnell und effizient Kommunikation ermöglichen; man kann überhaupt sehr viele Treffen organisieren, die eventuell gar nicht nötig wären, wenn es nicht die Technik gäbe, die diese Treffen ermöglichte.
Kommunikation wird damit von etwas, was Menschen tun, zum eigentlichen Gegenstand der Arbeit, oft zur Arbeit selbst – auch wenn es auf mich manchmal eher wie das Gegenteil dessen wirkt, was Arbeit ist. Das kann daran liegen, dass ich eine solitäre Art der Arbeit verfolge, das Schreiben; das kann auch daran liegen, dass ich oft den Eindruck habe, dass Planung und Prozess das eigentliche Arbeiten ersetzen. Auch das hat einen Aspekt der Zeitlichkeit – bestimmte Arten von Arbeit hatten ein Ergebnis, ein Ziel; das prozesshafte, digitale Gleiten lässt Zeit dagegen eher breiig werden und seltsam zäh.
Logik der digitalen Technik
Klar ist, dass die Logik der digitalen Technik die Logik der Arbeit bestimmt – ohne dass das oft wirklich reflektiert wird. Denn so ist das mit Digitalen: Es schafft sich die Bedürfnisse und die Realitäten, die es braucht, um zu funktionieren. Früher hätte man sich kurz getroffen, wenn man im gleichen Gebäude arbeitet, heute muss es ein digitales „Meeting“ sein.
Mir fällt das immer auf, wenn ich etwa Fotos aus den 1930er und 1940er Jahren anschaue, zum Beispiel die Bilder vom Strand von Coney Island in New York, die der amerikanische Fotograf Weegee gemacht hat, der eigentlich Arthur Fellig hieß und in Galizien in der heutigen Ukraine geboren wurde – all die Menschen, die da dicht an dicht gedrängt stehen.
Solche Szenen gibt es heute nicht mehr, genauso wie es überhaupt diese Massen nicht mehr auf den Straßen gibt, wie man sie etwa auf alten Bildern vom Potsdamer Platz in Berlin sieht. Es gibt damit eigentlich die Masse nicht mehr, den treibenden und in vielem gefährlichsten politischen Faktor des frühen 20. Jahrhunderts, jedenfalls nicht mehr in der sichtbaren Form.
Früher war die Straße interessanter
Was ist geschehen? Die einfachste Erklärung ist, dass es eine Zeit vor der Einführung des Fernsehens gab, als es interessanter war, auf der Straße oder am Strand zu sein, als zu Hause vor der tapezierten oder nicht tapezierten Wand oder auch dem Radio; und dass es eine Zeit danach gibt, wo die Menschen nun lieber zu Hause bleiben?
Waren sie glücklicher zuvor, waren sie glücklicher danach? Darum geht es erst einmal nicht. Es geht darum zu verstehen, wie Technologie oder Technik, die Uhr, der Fernseher, das Internet, das Leben reguliert und reglementiert, oft ohne Widerspruch oder überhaupt Bewusstsein. Das ist das Faszinierende oder auch die fast physische Macht von Technologie. Es ist ein dauerndes Ausverhandeln, was die Menschen meistens nicht selbst machen, sondern es hinnehmen. Die Wirkungen von Technologie lassen sich erst nach und nach ermessen. Ein Feldversuch.
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