taz Talk mit Autor Andreas Schwab: Künstler müssen leiden
Die Bohème entstand um 1850 in Paris und prägt bis heute künstlerisches Leben in Europa. Ein taz Talk über Freiheit, Rausch und Frauen in der Bohème.
Der Schweizer Historiker, Ausstellungsmacher und Buchautor hat schon sein zweites Buch über die Bohème verfasst, die um 1850 in Paris entstand und anschließend in ganz Europa Fuß fasste. Mit dem Titel: „Freiheit, Rausch & schwarze Katzen – eine Geschichte der Boheme“. Über ebendiese Lebensform, die die Kunst bis heute prägt, sprach Schwab am 4. März im taz Talk mit Moderator Jan Feddersen.
Empfohlener externer Inhalt
Von etablierten Tugendenden der Zeit, wie Streben nach Wohlstand, Sparsamkeit und der Ehe, wollten Künstler*innen der Bohème laut Schwab nichts wissen. Sie grenzten sie sich vom Bürgertum ab, deren Doppelmoral sie verachteten, und machten sich gezielt zu Außenseitern. „Wenn du immer mit dem Strom mitschwimmst, kommst Du nicht in die Position, ein richtig gutes Buch zu schreiben“, fasste Schwab die Ansicht der Bohème zusammen.
In seinem Buch zeichnet der Historiker die Lebenswege von Bohémien und Bohémienne bis 1914 nach. Er bezeichnet sie als „absolute Idealisten, die sich der Sache opfern.“ Ihr Ziel war ein individualistischer Lebensstil abseits von gesellschaftlichen Beschränkungen. Dennoch strebten sie nach Ruhm und Anerkennung ihrer künstlerischen Leistungen, die sie durch Ausdruck ihrer Selbst hervorbringen wollten.
Absinth, Opium und die Kunst des Leidens
Dabei suchte die Bohème den Rausch und die Übertretung der Grenzen der Normalität. Absinth und Opium seien in diesen Kreisen angesagt gewesen, weil sie als gefährlich galten, so Schwab. Verbreitet sei der Mythos gewesen, Kunst entstehe nur durch Leiden.
Frauen standen zur Bohème in einem ambivalenten Verhältnis. Einerseits bot sie ihnen ein Rollenmodell, das nicht den Konventionen der Zeit entsprach. Als Beispiel nennt Schwab Franziska Gräfin zu Reventlow, die in WGs wohnte, Dreiecksbeziehungen hatte und ihre Liebhaber frei wählte. Andererseits hatten Frauen es auch unter Bohemiens schwer, als Künstlerinnen ernst genommen zu werden und mussten sich aber gegen große Widerstände durchsetzen, erklärte Schwab. Oft wurden sie auf ihre Rolle als gute Care-Arbeiterinnen, Musen und Projektionsflächen reduziert.
In seinem Buch hat Schwab versucht, Brücken zur Gegenwart zu schlagen. Genau wie heute sei das Zeitalter der Bohème von Beschleunigung und technologischem Wandel geprägt gewesen. Der Trend zur entgrenzten Arbeit werde zwar in einigen urbanen Milieus weitergelebt, habe sich insgesamt jedoch nicht durchgesetzt. Auch versuchten manche Künstler*innen weiterhin durch Provokation aufzufallen. Das gesellschaftliche Provokationspotential sei jedoch gesunken; mit Polyamorie und Fäkalkunst lasse sich heutzutage kein Aufschrei mehr generieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Klimakiller Landwirtschaft
Immer weniger Schweine und Rinder in Deutschland