Palästinensisches Theaterprojekt: Auf der Bühne in der Schusslinie

Einst tourte das Freedom Theatre quer durch Europa, auch durch Deutschland. Jetzt kämpft das Projekt aus Dschenin im Westjordanland ums Überleben.

Ein mann zeigt auf ein Plakat eines Theaters, das mit einem Davisdtern bemalt ist.

Ahmed Tobasi vom Freedom Theatre in Dschenin im Januar: Israelische Soldaten hätten den Davidstern aufgesprüht, heißt es Foto: Serena Bilanceri

DSCHENIN taz | Drei Männer und drei Frauen sitzen auf einer Bühne. Zwei der Frauen tragen Kopftuch, eine nicht. Der Boden aus Kunststoff ist abgekratzt, der rote Teppich abgenutzt. In der Luft liegt ein rauchiger Duft, Bühnengeruch. „Stellt euch vor, dass ihr eine Tür aufmacht“, sagt ein junger Mann. Alle strecken einen Arm aus. „Jetzt stellt euch vor, dass ihr die Tür zumacht.“ Alle ziehen die imaginäre Klinke an sich heran.

Die Gruppe gehört der Schule des Freedom Theatre in Dschenin im palästinensischen Westjordanland an. Der Improvisationskurs ist die erste Gelegenheit seit Monaten, sich wieder persönlich im Theater zu treffen, mehrere Monate nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und dem Beginn des Kriegs im Gazastreifen im vergangenen Oktober.

Die Frau ohne Kopftuch, Chantal Ritzkalla, hofft auf eine Karriere auf dieser Bühne. „Hier kann ich meine Gefühle ausdrücken, meine Identität“, sagt sie. Aber auch um künstlerischen Widerstand geht es. Das Freedom Theatre war für sie ein Mythos, bevor sie selbst Teil des Projekts wurde. Die Geschichte des Theaters ist voller Gegensätze, so wie sein Verhältnis zur Militanz. Es ist aber auch eine Geschichte von Hoffnung, an einem Ort, an dem Hoffnung regelmäßig unter Trümmern begraben wird. Und wo Waffen seit Langem mehr Autorität besitzen als Worte.

Gründung eines Theaters im Flüchtlingslager

Arna Mer-Khamis, eine Ex-Kämpferin der jüdischen Elite-Einheit Palmach, die später in der israelischen Armee aufging, gründete in den achtziger Jahren im palästinensischen Flüchtlingslager von Dschenin das Theater der Steine – eine Anspielung auf die Steine, die Palästinenser während der ersten Intifada auf israelische Soldaten warfen. Worte sollten nun ihre Steine sein.

In einer Dokumentation spricht Mer-Khamis, die Haare hochgesteckt und ein Palästinensertuch um den Hals gewickelt, mit einem Dutzend Kinder auf Arabisch. Mer-Khamis, die Israel mit aufgebaut hat und später einen kommunistischen, christlichen Palästinenser heiratete, machte mit muslimischen Kindern aus einem konservativem Umfeld Theater.

Kinder, die später dann doch zu den Waffen greifen sollten. Nach der zweiten Intifada im Jahr 2002 lag das Theater der Steine in Trümmern. Doch Mer-Khamis’ Sohn, Juliano Mer-Khamis, baute es 2006 wieder auf. Das Freedom Theatre war geboren. Die dritte Intifada werde eine kulturelle sein, soll er gesagt haben. Die Gruppe wächst, geht auf Tournee, in Europa, Großbritannien, den USA. Die Sponsoren kommen aus aller Welt, so wie die Regisseure, die in Dschenin immer wieder arbeiten. Eine Schauspielschule im von Israel besetzten Westjordanland entsteht.

Sechs Monate Haft ohne Gerichtsverfahren

Heute jedoch ist manch ein Mitglied des Theaters der Freiheit nicht mehr frei. In der Nacht auf den 13. Dezember stürmten israelische Sol­da­ten das Gebäude. Sie warfen Möbel um und sprühten Parolen an die Wand. So erzählen es mehrere Mitarbeiter. In einem Nebenraum glänzt ein Davidstern auf einer Leinwand, inzwischen von einem X übersprüht. „Die Soldaten gingen von Tür zu Tür, ich war zu Hause, wir hörten die Nachbarn schreien“, erinnert sich Ahmed Tobasi, graumelierter Bart und gehäkelte Mütze, der künstlerische Leiter des Theaters. „Als sie mich sahen, waren alle Waffen auf mich gerichtet.“

Tobasi sagt, die Soldaten hätten ihm in den Bauch getreten, ihn auf einen Lkw geladen und irgendwo in der Kälte abgeladen. „Stell dir vor, du bist gefesselt, mit verbundenen Augen, und hörst die Militärfahrzeuge an dir vorbeifahren. Jedes Mal denkst du, dass das nächste dich überfährt. Jede Sekunde möchtest du einfach sterben, damit es endet.“ Nach etwa 14 Stunden wird Tobasi freigelassen.

Theatermanager Mustafa Sheta jedoch ist noch im Gefängnis. Er wurde von einem Militärgericht zu sechs Monaten Verwaltungshaft verurteilt, muss also ohne Gerichtsverfahren in Gefangenschaft bleiben. Nach Angaben des Theaters soll er vor seiner Festnahme gesagt haben, er habe nichts getan. Was gegen ihn vorliegt, ist unklar. Eine Anfrage der taz an den israelischen Inlandsgeheimdienst, an den die Armee verweist, blieb unbeantwortet.

Es braucht einen Ort, an denen Gefühle zugelassen werden

Auch Tobasi wisse nicht, warum er festgenommen wurde, sagt er. Das israelische Militär schreibt auf Anfrage, es habe damals Anti-Terror-Operationen in Dschenin durchgeführt. Dabei seien mehr als 1.000 Gebäude durchsucht und Verdächtige festgenommen worden. Wer keine Verbindungen zu Terrororganisationen hatte, sei nach einigen Stunden wieder freigelassen worden. „Das israelische Militär macht Beschäftigte im Kunst- und Kulturbereich nicht zum Ziel“, so ein Sprecher.

Die Theaterschülerin Ritzkalla sagt, sie fühle sich nicht mehr sicher. Nicht im Flüchtlingslager, nicht im Theater. „Als sie das Theater attackierten, war es, als hätten sie mir die Ausdrucksmöglichkeiten genommen“, sagt die 23-jährige mit den lockigen Haaren. „Die Menschen im Camp haben viele Traumata wegen der Angriffe. Deshalb brauchen wir einen Ort, an dem wir unseren Gefühlen freien Lauf lassen können.“

Doch selbst in der palästinensischen Gemeinschaft akzeptieren manche das Theater nicht. Eine Frau habe einmal die Darsteller angeschrien, weil ein regenbogenfarbiger Papierflieger auf der Bühne war, erinnert sich Ritzkalla. „Damit waren LGBTQ-Rechte noch nicht einmal gemeint.“

Zwischen Militanz und Theater

Vorwürfe und Angriffe von mehreren Seiten sind für das Freedom Theatre nichts Neues. 2011 wurde Juliano Mer-Khamis in seinem Auto vor dem Theater erschossen, der Täter wurde nie gefasst. Manche vermuten Islamisten hinter dem Mord. Das Theater, die Frauen auf der Bühne, Themen wie Frauenrechte, mentale Gesundheit, das war den Konservativen im Flüchtlingslager schon immer ein Dorn im Auge.

Radikale Kräfte, die der Terrormiliz Islamischer Dschihad und der Hamas nahestehen, sind in Dschenin aktiv, besonders im Flüchtlingslager. Zwei Jahre vor Juliano Mer-Khamis’ Ermordung hatte jemand Molotowcocktails ins leere Theater geschleudert. „Spätestens seit Julianos Tod wissen wir: Das, was wir machen, gefällt manchen Menschen nicht“, sagt Tobasi. „Wir rücken Probleme in den Mittelpunkt.“ Ob patriarchalische Traditionen, die israelische Besatzung oder Missstände innerhalb der palästinensischen Behörden.

Doch in den letzten Jahren, insbesondere nach dem 7. Oktober, hat sich einiges verändert. Verschlimmert. „Unser Budget ist inzwischen um 70 Prozent kleiner“, sagt Tobasi. Seit ein paar Jahren müssten sich palästinensische NGOs gegen den „Widerstand“ bekennen, um Finanzierung von der EU und aus Europa zu bekommen. Umso mehr jetzt, nach dem Massaker der Hamas. Doch das will das Theater nicht – „entscheiden, wer Terrorist ist und wer nicht“. Tobasi sagt: „Wir sind eine künstlerische Einrichtung, wieso bringt ihr uns in diese Lage?“

Tobasi selbst ist im Flüchtlingslager von Dschenin aufgewachsen. Kurz vor der zweiten Intifada schloss er sich dem Islamischen Dschihad an und griff zu den Waffen, mit 17 Jahren wurde er verhaftet. Vier Jahre später, nach seiner Freilassung, wollte er nicht mehr kämpfen. Unter Juliano Mer-Khamis’ Leitung begann er zu schauspielern. Ein Aufenthalt in Belgien prägte ihn: „Da planen die Menschen die nächsten drei Jahre ihres Lebens, wir in Palästina nicht einmal die nächste Stunde.“

Er beantragte Asyl in Norwegen, ließ sich als Schauspieler ausbilden. Nach dem Tod von Juliano Mer-Khamis kam er zurück nach Dschenin. Heute blickt er weder positiv noch negativ in die Zukunft, er versucht, einfach weiterzumachen. „Doch wie lange noch?“, fragt er in den Theatersaal.

Ein Friedhof voller junger Leute

Die Gewalt, die diesen Ort durchtränkt, die Toten, das Tränengas, die Bulldozer, die Drohnen, sie alle wirken auf die jungen Menschen ein. Draußen, an der Hauptstraße, sind die Folgen von Kämpfen sichtbar. Einschusslöcher in den Wänden, Trümmerhaufen, wo früher einmal Wände standen. Die Kinder laufen mit ihren Schulsäcken herum, als sei diese Kriegs­gebietskulisse ganz normal.

Tobasi geht die Straße entlang, deutet auf ein Denkmal oder auf das, was davon übrig ist. Auf einer zerbrochenen Stele stehen auf Arabisch die Namen jener Dörfer im heutigen Israel, aus denen die Familien im Flüchtlingslager von Dschenin stammen. In der Luft liegt ein Geruch von faulem Wasser, der Theaterleiter springt über ein Rinnsal, das über die Straße fließt.

Wenige Meter weiter liegt ein Friedhof mit weißen Grabsteinen. Und Bildern der Toten. Viele sind jung, viele tragen ein Sturmgewehr. „Ich war schockiert, als ich aus dem Ausland zurückkam und den Friedhof besuchte. Er war voll, vor allem mit jungen Menschen“, erzählt Tobasi. Allein seit dem 7. Oktober sind drei Theatermitglieder vom israelischen Militär getötet worden, einer von ihnen war minderjährig. Er soll selbstgebaute Sprengsätze auf Militärfahrzeuge geworfen haben und wurde von einer Drohne erschossen.

Es ist später Nachmittag, bald wird es dunkel. Schüsse sind zu hören. Der Muezzin ruft zum Abendgebet. Die orangefarbenen Sonnenstrahlen fallen auf die verwüsteten Straßen des Flüchtlingslagers von Dschenin, auf die zertrümmerten Gebäude, den zerborstenen Asphalt. „Eigentlich“, sagt Tobasi, „sollten die jungen Leute davon träumen können, Schauspieler, Künstler oder DJ zu werden.“

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