Schülersprecher über Bildungskrise: „Wir haben fatale Zustände“

Florian Fabricius von der Bundesschülerkonferenz fordert, dass die Politik Schü­le­r:in­nen ernster nimmt. Vor allem zur psychischen Gesundheit.

Ein junger Mann mit Anzug steht vor einer Schriftwand

Schülervertreter Florian Fabricius Foto: Jörg Ratzsch/picture alliance

taz: Herr Fabricius, in diesem Jahr hatten Sie schon dreimal die Gelegenheit, der Bundesbildungsministerin persönlich Feedback darüber zu geben, wie es so an Schulen läuft. Im Januar bei Markus Lanz, kurz darauf bei einem Treffen im Ministerium und vergangene Woche zum 20-jährigen Jubiläum der Bundesschülerkonferenz. Fühlen Sie sich jetzt von Bettina Stark-Watzinger gehört?

Florian Fabricius: Prinzipiell werden wir gehört, das ist ein erster Schritt. Wo ich aber Luft nach oben sehe, ist die konkrete Umsetzung. Zu oft sind die Gespräche mit uns Schü­ler­ver­tre­te­rn zu oberflächlich und es geht darum, Schü­le­rin­nen und Schüler überhaupt zu beteiligen. Aber ein Austausch auf Augenhöhe, wo wir auch mit unseren Positionen ernst genommen werden, der fehlt mir noch. Daher würde ich mir wünschen, dass Gespräche wie die mit Frau Stark-Watzinger auch zu konkreten Ergebnissen führen.

Die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz (KMK), Christine Streichert-Clivot von der SPD, hat auf Ihrer Jubiläumsfeier soeben ein festes Format für den Austausch mit Schü­le­r:in­nen versprochen. Ist das jetzt ein Erfolg oder das, was Sie „Youthwashing“ nennen? Also die bloße Simulation von Mitsprache junger Menschen?

Die Gespräche mit den Mi­nis­te­rin­nen und Ministern sind wichtig, auch für die Anerkennung unserer Arbeit. Aber letztlich ist das nur ein Anfang, weil die Minister nur die großen politischen Entscheidungen treffen, nicht aber das Kleinklein von Programmen ausarbeiten. Deshalb ist es wichtig, dass die Schülerperspektive auch auf der Arbeitsebene gehört wird. Wir brauchen also eine Stimme in den Gremien der KMK. Wir müssen rein in die Verbändeanhörungen, in die Beiräte. Dort wo die politischen Aushandlungsprozesse stattfinden.

Florian Fabricius, 18 Jahre, ist Gymnasiast aus Hessen und Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz (BSK). In diesem Monat feiert die BSK ihr 20-jähriges Bestehen. Dort sind 14 der 16 Bundesländer über ihre Landesschülerinnen- und -schülervertretungen beteiligt.

Wie sieht es bei Entscheidungen im Schulalltag aus? Sind Sie da besser eingebunden?

Aus meiner Sicht ist die Beteiligung in den Schulen immer noch zu gering. Schülervertretungen werden immer noch oft als ein Gremium angesehen, das über die Farbe von Schulpullovern bestimmt oder den nächsten Nikolaustag gestaltet. Wenn es aber darum geht, auf Schulebene wichtige bildungspolitische Entscheidungen zu treffen, traut man Schü­le­rn oft wenig zu.

Haben Sie ein Beispiel?

Die Ausgestaltung der Schulordnung zum Beispiel. Ich fände es wichtig, dass Schü­le­r daran beteiligt werden. Oder die Frage, wie die Schulen, die jetzt Schulbudgets vom geplanten „Startchancen-Programm“ erhalten sollen, diese Mittel ausgeben. Ein gutes Beispiel ist auch die Verwendung der Gelder aus dem Digitalpakt. Die Schulen müssen dafür ja Medienbildungskonzepte schreiben. Was da drin steht, beschäftigt uns Schüler natürlich sehr. Wir sind schließlich diejenigen, die dann eine bestimmte Software, ein bestimmtes Gerät nutzen müssen. Es wäre leicht zu fragen: Was haltet ihr davon? In der Regel werden wir aber nicht gefragt.

Apropos Digitalpakt. Bund und Länder streiten seit Monaten über einen Nachfolger. Wie immer geht es um die Frage, wer wie viel bezahlt und wer was entscheidet. Wie viel Verständnis haben Schü­le­r:in­nen für solches Kompetenzgerangel, wenn es noch nicht einmal überall Schul-WLAN gibt und sich viele Lehrkräfte bis heute schwertun mit dem Einsatz digitaler Medien?

Ich habe gar kein Verständnis dafür und kann nur mit dem Kopf schütteln. Für uns Schü­le­rin­nen und Schüler ist es komplett schnuppe, wer den Digitalpakt 2.0 am Ende bezahlt. Es kann aber doch nicht sein, dass wir die Politik anbetteln müssen, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Der politische Zirkus, das Kompetenzgerangel zwischen Bund und Ländern, das unnötigerweise auch noch in der Öffentlichkeit ausgetragen wird, muss ein Ende haben. Vor allem, weil Schul­träger und Schulleitungen jetzt dringend Planungssicherheit brauchen. Langfristige Investitionen wie etwa in IT-Fachkräfte gehen nur mit Zuverlässigkeit. Stattdessen müssen Schul­lei­te­r oder Ent­schei­de­r auf Kreis­ebene mitansehen, wie sich die Politik um Einigungen fetzt. Die Folge ist, dass die Digitalisierung nicht so ganzheitlich und nicht so nachhaltig ist, wie sie sein könnte, weil sich die Schulen nur auf kurzfristige Investitionen stützen können. Diese Streitigkeiten nehmen der Digitalisierung den Wind aus den Segeln.

Sie sind Schüler an einem hessischen Gymnasium. Was läuft dort – neben fehlender Partizipation und halbherziger Digitalisierung – noch schlecht?

Ein Thema, das uns gerade sehr beschäftigt, ist der Umgang mit mentaler Gesundheit. Das ist unserer Meinung nach immer noch unterbeleuchtet. Seit der Pandemie aber haben wir eine Epidemie an mentalen Erkrankungen an Schulen. Die Zahl der Schü­le­r mit Depressionen, mit Essstörungen oder Zukunftsängsten ist stark gestiegen. Der enorme psychische Druck unter Schü­le­r:in­nen wird aber tabuisiert und stigmatisiert. Wir erwarten, dass die Politik hier handelt. Aktuell kommen 6.300 Schü­le­r:in­nen auf ein:e Schulpsycholog:in. Man stelle sich vor, man hätte so viele Pa­ti­en­t:in­nen auf einen Arzt. Das sind absurde Zustände.

Einer aktuellen Studie zufolge zeigen 20 bis 25 Prozent der Jugendlichen Symptome einer psychischen Erkrankung. Was belastet Schü­le­r:in­nen heute so sehr?

Das zu beurteilen trauen wir uns als Bundesschülerkonferenz nicht zu. Ich persönlich beobachte aber, dass es auch stark die gesamtgesellschaftliche Lage ist, die zu Verunsicherung führt. Auch der Krieg in der Ukraine schürt Zukunftsängste. Gleichzeitig fühlen sich viele Jugendliche in der Schule einem System ausgeliefert, in dem sie wenig Chancen erhalten, etwas selbst zu verbessern. Das zusammen führt leicht zu einem Gefühl von Ohnmacht, das belastend sein kann.

Seit diesem Schuljahr gibt es ein bundesweites Pilotprojekt mit „Mental Health Coaches“ an Schulen. Geht das in die richtige Richtung?

Das ist ein gutes Beispiel, wie die Politik beim Thema Mental Health agiert. Sie glaubt, das Problem vor allem über zusätzliches Personal in den Griff zu bekommen. Das reicht aber nicht, wir brauchen eine tiefergehende Debatte. Wir erwarten, dass die Politik endlich den Mut aufbringt und sagt: Wir gucken uns die Ursachen für die hohe Belastung an. Also auch Themen wie Bewertungen, Notengebung, Schulstress. Das sind aber heiße Kartoffeln, an denen man sich schnell die Finger verbrennt. Da kommt dann gerne der Vorwurf, der Leistungsgedanke soll abgeschafft werden.

Beim Umgang mit der Personalkrise an Schulen fordern Sie von der Bildungspolitik mehr „kreative Ansätze“. Man könnte erwidern: Die gibt es doch. Sachsen-Anhalt sucht Lehrkräfte per Headhunter. Sachsen testet im ländlichen Raum schulübergreifende Leistungskurse. Und soeben hat die KMK beschlossen, den Zugang für Ein-Fach-Lehrkräfte und Quer­ein­stei­ge­r:in­nen weiter zu öffnen.

Der Personalmangel ist ein Riesenthema. Wir haben an den Schulen fatale Zustände. Wenn ich daran denke, wie viele Stunden täglich ausfallen und wie viel ich mir deshalb selbst auf Youtube beibringen muss, begrüße ich, dass die Länder eine Vielzahl an Maßnahmen ergreifen, aber bisher reicht das bei Weitem noch nicht. Wir müssen mit allen Mitteln verhindern, dass die Klassen noch weiter vergrößert werden und Unterricht dadurch noch weniger individuell und noch mehr zur Massenabfertigung wird.

Was müsste Ihrer Meinung nach passieren?

Die bessere Anerkennung ausländischer Abschlüsse ist ein Ansatz. Ich würde auch versuchen, noch mehr pensionierte Lehrkräfte zu rekrutieren.

Vom Personalmangel sind ja vor allem Haupt- und Förderschulen betroffen. Haben Sie eigentlich auch Schü­le­r:in­nen dieser Schulformen in der Bundesschülerkonferenz? Oder engagieren sich dort vor allem Gymnasiast:innen?

Wir haben Schü­le­rin­nen und Schüler von allen Schulformen. Manche Landesschülervertretungen haben auch Quoten für einzelne Schularten, teils werden die Sitze hier paritätisch verteilt. Wir haben also strukturell sichergestellt, dass wir alle Perspektiven gut abdecken können. Wir haben, denke ich, hier einen breiten Blick auf Schule und sind alles andere als ein reiner Gymnasiastenverein.

Die jüngste Pisa-Studie hat ja gezeigt, dass Deutschland die hohe Chancenungleichheit nicht in den Griff bekommt. Die KMK setzt unter anderem auf mehr Stunden für Deutsch und Mathe an Grundschulen. Wo würden Sie ansetzen?

Wir sehen dringenden Handlungsbedarf beim Schüler-Bafög. In der öffentlichen Debatte wird Bafög ja komplett auf Studierende reduziert, dabei ist jeder und jede dritte Bafög-Empfänger noch Schüler. Wir halten es für fatal, dass die Bafög-Sätze immer noch unter dem Existenzminimum sind und auch die versprochene Elternunabhängigkeit fehlt. Darüber hinaus fänden wir gut, wenn es mehr Austausch und Kooperationen zwischen privilegierten und sozial benachteiligten Schulen gäbe. Wir müssen raus aus der jeweiligen Schulblase und stärker miteinander arbeiten. Dieser Wunsch brennt uns auf der Seele.

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