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2. März 2024, Deir el-Balah Foto: Mohammed Talatene/dpa

Crowdfunding für Flucht aus GazaSpendenziel: Ägypten

Palästinenser sammeln riesige Summen, um dem Gaza-Krieg zu entfliehen. Dabei profitiert die Reiseagentur eines dubiosen ägyptischen Geschäftsmannes.

Jannis Hagmann
Von Jannis Hagmann aus Berlin

E ng ist es bei Familie al-Qattaa. Aber immerhin seien es nicht mehr 22 Personen, die in der Wohnung lebten, erzählt Hend al-Qattaa. Ihr Bruder Mohammed habe es bereits rausgeschafft aus dem Gazastreifen. Zurück bleibt die 32-Jährige mit ihren Eltern, zwei Schwestern, deren Ehemännern und vielen Kindern. Auch die Tante ist da, mitsamt ihrer Familie. In Zawaida im mittleren Gazastreifen haben sie alle Zuflucht gefunden.

„Seit Kriegsbeginn haben wir nichts anderes gemacht, als versucht zu überleben“, erzählt die Lehrerin über Whatsapp, „angefangen bei der Sicherung von Lebensmitteln bis hin zu Gas und Treibstoff für den Strom, um irgendwie ein Leben in Würde zu führen.“ Kürzlich sei ganz in der Nähe ein Haus bombardiert worden und über den Köpfen der Bewohner eingestürzt. „Ein schrecklicher Moment“, sagt Hend, „wir haben nie erfahren, warum.“

Was Hend neben dem Beschuss vor allem Sorgen bereitet, sind die steigenden Preise. Zucker beispielsweise, den es in Gaza kaum noch gebe, koste jetzt 70 Schekel statt 3. Der Preis für Milchpulver sei von 10 auf 40 Schekel gestiegen. „Völlig irrationale Preise“, findet Hend, „wir geben mehr Geld aus als je zuvor.“

Und die Lage werde immer schlimmer. Deshalb versucht die Familie nun, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und eigenständig die Ausreise aus dem Gazastreifen zu organisieren. Denn dass Gazas südliche Grenze zum Nachbarland Ägypten ebenso dicht ist wie die zu Israel, stimmt zwar grundsätzlich – allerdings gilt dies nur für die Hunderttausenden Pa­lästi­nen­ser*innen, die es sich nicht leisten können, horrende Summen für die Ausreise zu zahlen.

65.000 Euro für einen Weg raus

Hend und ihre Familie gehen von mehr als 65.000 Euro aus, die sie brauchen, um insgesamt 13 Familienmitglieder aus Gaza herauszubekommen. Dass es tatsächlich möglich ist, dem Krieg zu entkommen, hat nach Angaben der Familie bereits Hends Bruder Mohammed bewiesen, der mit Frau und Kindern seit Februar in Kairo sei. Gegen Geld sei sein Name auf einer Ausreiseliste am Grenzübergang Rafah erschienen. Hends Bericht deckt sich mit verschiedenen Medienberichten über bezahlte Ausreisen.

Um die 65.000 Euro zusammenzubekommen, hat Hend mit einer Schwägerin in Heidelberg eine Crowdfunding-Kampagne gestartet. „Wir bitten um Ihre Unterstützung, damit meine Schwiegereltern, Schwägerinnen, Neffen und Nichten in Gaza – 3 Familien, 13 Personen – dem Albtraum des Krieges in Gaza entkommen können“, schreibt Manuela Koritensky, die Schwägerin, auf der Plattform GoFundMe. „Die Zeit wird für uns knapp“, heißt es weiter im Namen der Familie, „mit der bevorstehenden Militäroperation in Rafah sinkt unsere Überlebenschance mit jedem Tag.“ Fotos zeigen die zwölfjährige Mira beim Geigespielen und den Familienjüngsten, den einjährigen Rayan. Bilder einer einst glücklichen Familie.

Wer auf GoFundMe nach Einträgen zu Gaza sucht, findet etliche Ausreisekampagnen. Viele sind außerordentlich erfolgreich. Da sind etwa Yasmin Shath und Yasmin Adli aus Toronto, Kanada, die laut GoFundMe bereits über 120.000 Euro an Spenden bekommen haben, um ihre Familie aus Gaza rauszubekommen. Auch sie haben den Großteil des Geldes für den Grenzübertritt nach Ägypten eingeplant.

Hends Familie hat sich genau informiert. Auf GoFundMe schlüsseln sie die Kosten auf: 5.000 bis 6.000 US-Dollar pro erwachsener Person, jeweils bis zu 3.000 für die vier Kinder. Hinzu kommen zwei Monatsmieten, die sie zunächst brauchen, um in Ägypten unterzukommen. Und dann sind da noch die Gebühren in Höhe von mehr als 2.000 Dollar für das US-amerikanische Unternehmen GoFundMe, das aus dem fernen Kalifornien auf diese Weise an den Ausreisen aus dem Gazastreifen mitverdienen will.

Ein großer Teil des Geldes aber landet laut Recherchen in Ägypten. Während Israel Gaza bombardiert und die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen Spenden sammeln, um ihr Leben zu retten, verdient eine Reiseagentur in Kairo laut Medienberichten viel Geld mit dem Schicksal der Menschen. Der britische Sender Sky News schätzte die Höhe der geflossenen Ausreisegebühren jüngst auf rund 1 Million US-Dollar – an nur einem Tag.

Grundlage der Berechnung war eine Namensliste der Personen, die an jenem Tag im Februar über die besagte Reiseagentur Hala Consulting and Tourism Services aus dem Gazastreifen ausreisten. Ihre Büroräume hat Hala in Nasr City im Osten Kairos. Auf Facebook stellt sich die Agentur als Unternehmen vor, „das Reise-, Tourismus- und VIP-Dienste für den Grenzübergang Rafah auf höchstem Serviceniveau anbietet“.

Als gäbe es keinen Krieg, werben mit seichter Musik unterlegte Clips auf Instagram für einen Privattransfer zur Grenze, mitsamt Mahlzeiten auf dem Weg. Der Reisepreis, heißt es zudem, „enthält die Gebühren am Grenzübergang, das Visum und den Gepäckservice.“ Um eine Stellungnahme zu den hohen Preisen gebeten, reagierte die Agentur gegenüber der taz nicht.

Um zu verstehen, wie es möglich ist, dass eine private Agentur Ausreisen aus Gaza anbietet, während sich die ägyptische Regierung weigert, in großem Stil Flüchtlinge aufzunehmen, muss man in die jüngere Geschichte des Sinais eintauchen. Die zu Ägypten gehörende Halbinsel grenzt an den südlichen Gazastreifen an und trennt somit das Palästinensergebiet vom ägyptischen Hauptland.

„König des Grenzübergangs“

Und die heutigen Zustände am Grenzübergang Rafah, der zwischen Gaza und dem Sinai liegt, hängen eng zusammen mit dem Aufstieg eines dubiosen Geschäftsmannes: Ibrahim al-Organi, des „Königs des Grenzübergangs“, wie ihn Mada Masr, das einzige noch kritische Medium im autoritär regierten Ägypten, im Februar nannte.

Laut einer ausführlichen und im Februar veröffentlichten Recherche der Nachrichtenseite entstammt Organi einem der großen Stämme der tribal geprägten Halbinsel. In den unruhigen Zeiten seit der ägyptischen Revolution im Zuge des Arabischen Frühlings vom Jahr 2011 soll er sich geschickt durch die Wirren der ägyptischen Politik laviert haben. Mit dem Ergebnis, dass er heute offenbar nach Gutdünken Ausreisen aus Gaza über die zu seiner Unternehmensgruppe Organi Group gehörende Reiseagentur Hala verkaufen kann.

Auf den Trümmern sitzen bleiben: ein Gebäude in Deir al-Balah nach einem israelischen Luftangriff Foto: Adel Hana/ap

Zeitweise inhaftiert, weil er im Jahr 2008 an der Geiselnahme von Polizisten beteiligt gewesen sein soll, vermittelte Organi später zwischen den einflussreichen Stämmen der Halbinsel und dem Militärregime unter Abdel Fattah al-Sisi, der sich im Jahr 2013 an die Macht putschte.

Organis Rolle war deshalb wichtig, weil der Führung in Kairo nach der Revolution die Kontrolle über den Sinai zu entgleiten drohte. Als sich 2014 schließlich auch noch Dschihadisten auf der Halbinsel dem „Islamischen Staat“ (IS) anschlossen, wurde die Loyalität der lokalen Stämme für das Regime von al-Sisi zentral.

Nach den Recherchen von Mada Masr setzte sich Organi an die Spitze eines Zusammenschlusses mehrerer Stämme und baute um das Jahr 2017 sogar eine Miliz auf, die das ägyptische Militär in ihrem Kampf gegen militante Islamisten unterstützte.

Parallel dazu baute Organi mehrere Unternehmen auf, die heute unter dem Dach der Organi Group zusammengefasst sind und im Bau- und Immobilienwesen sowie mit der Hala-Agentur auch im Reisesektor tätig sind. „Organi erlangte die nahezu vollständige Kontrolle über verschiedene Unternehmen auf dem Sinai, darunter auch über alles, was mit dem Grenzübergang Rafah zusammenhängt“, heißt es in dem Bericht von Mada Masr.

Die Reiseagentur Hala hat ihrer Instagramseite zufolge schon lange vor dem aktuellen Gazakrieg Ausreisen aus Gaza organisiert. Seit Oktober hat sie ihre Preise laut Sky News aber um das 14-Fache erhöht. Wer die Beträge zahlen kann, bekommt dafür ein Rundum-Sorglos-Paket. Die Namen der Kun­d*in­nen landen laut Mada Masr auf einer von mehreren Listen, anhand derer in Rafah entschieden wird, wer ausreisen darf und wer nicht. Auf eine Anfrage der taz, wie dies genau abläuft, reagierte weder Hala noch die Organi Group. Auch die ägyptische Botschaft in Berlin äußerte sich nicht dazu.

Für die vielen Zi­vi­lis­t*in­nen auf der palästinensischen Seite, die sich die Dienste von Hala nicht leisten können, bleibt indes nur die Hoffnung, dass Israel seine angekündigte Offensive auf die Stadt Rafah absagt und es zu einer Feuerpause zwischen Israel und der Hamas kommt. Hend al-Qattaa will darauf nicht warten: „Wir sind erschöpft von den vielen Versuchen, einen Waffenstillstand zu erreichen“, sagt sie. Früher oder später werde die Offensive ohnehin kommen. „Dann wird die Grenze geschlossen und wir verlieren die Möglichkeit, unser Leben zu retten.“ 19.000 Euro hat Familie al-Qatta bereits zusammen, 46.000 Euro fehlen noch.

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2 Kommentare

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  • Ich war erst kürzlich einige Zeit in Ägypten und hatte die Stimmung hier auch schon einige Male in den Kommentaren beschrieben. Neben dem vorgeschobenen Mitleid, das aber nur auf der Tonspur existiert, herrscht in der ("dezent" korrupten) Wirtschaftswelt Goldgräberstimmung und es werden alle diplomatischen Kanäle befeuert, um Ägypten als verantwortliches Land für den Wiederaufbau zu positionieren - natürlich ausschließlich mit ausländischem Geld. Man kann sich ausrechnen, welche Summen da im Spiel sind und wieviel davon versanden wird...

  • Dass ein privater Unternehmer de facto die Hoheit über die Visavergabe für die Einreise nach Ägypten hat, ist schon "bemerkenswert". Ein wichtiges Wort kommt in der gesamten Abhandlung (die aber durchaus interessant und gut recherchiert ist) nicht vor: "Korruption". Oder ist dieses K-Wort aus irgendeinem Grund tabu?

    Weiterhin sollte es für Ägypten eigentlich völlig selbstverständlich sein, Flüchtlinge nicht abzuweisen, wenn sie konkret von Gefahr bedroht sind. Gemäß Flüchtlingskonvention.