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Demokratie und AntisemitismusIm Sinne der Demokratie

Samuel Salzborn ist Antisemitismusbeauftragter Berlins. Er plädiert für einen ent­schlos­se­neren Kampf des Staats gegen Antisemitismus.

Solidaritätsmarsch mit Israel als Zeichen gegen Terror und Antisemitismus vom 5. November 2023 in Berlin Foto: Florian Boillot

Die Bedrohung der Meinungsfreiheit ist gegenwärtig ein beliebtes Narrativ. Doch in der Debatte darum haben sich zwei populäre Irrtümer eingerichtet: Die Artikel 1 bis 19 des Grundgesetzes regeln ausschließlich die Rechte des Individuums gegenüber dem Staat. Der Staat muss dulden, dass jemand der Meinung ist, die Erde sei eine Scheibe, Putin ein lupenreiner Demokrat und UNWRA-Personal sei nie in die Aktivitäten der Hamas verstrickt gewesen – aber niemand sonst außer dem Staat. Denn die Demokratie lebt schließlich von Widerspruch und Debatte.

Der zweite Irrtum besteht darin, dass Meinungsfreiheit grenzenlos sei. Doch das Recht untersagt Äußerungen, die gleichzeitig unwahr und ehrverletzend sind. Genau das trifft meist auf antisemitische Narrative zu. Antisemitismus ist daher keine Meinung und seine Verbreitung nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt. Es gibt wenige Indikatoren, die verlässlicher anzeigen, wie gefährdet eine Demokratie ist, als der Grad an Antisemitismus. Deshalb ist der Kampf gegen ihn nichts anderes als ein Selbsterhaltungstrieb der Demokratie. Doch ist sie für diesen Kampf gerüstet?

Dieser Frage geht Samuel Salzborn in seinem Buch „Wehrlose Demokratie? Antisemitismus und die Bedrohung der politischen Ordnung“ nach. Er destilliert darin beispielsweise den Anteil des Antisemitismus am Scheitern der Weimarer Republik: „Es war ein fundamentaler Fehler, der rechts- und demokratietheoretisch darin bestand, dass die Verfassungsnorm überschätzt und die Verfassungswirklichkeit in ihrem antidemokratischen Gehalt unterschätzt wurde. (…)„

Antisemitismus ist keine Meinung

Das Buch

Samuel Salzborn: „Wehrlose Demokratie? Antisemitismus und die Bedrohung der politischen Ordnung“. Hentrich & Hentrich, Leipzig 2024, 144 Seiten, 17 Euro

„Der Antisemitismus wurde verkannt als Meinung, die Gewalteskalationen auf den Straßen wurden verkannt als Ausdruck einer vorübergehenden Krise. (…) Denn all das, was AntisemitInnen in ihren Projektionen antijüdisch hassen, als ‚Gerücht über die Juden‘ formulieren, richtete sich substanziell gegen den demokratischen Anspruch von Politik und Gesellschaft: Es war der Hass auf Aufklärung, Liberalismus, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Individualität und Demokratie.“ Der Hass auf diese Werte ist bei Antisemiten hochaktuell, egal ob sie in Boston, Berlin, Budapest oder Gaza leben.

Salzborn konfrontiert die Leser mit der heutigen Realität des Antisemitismus in Deutschland – und das aus erster Hand: Der Politikwissenschaftler und Anti­se­mi­tis­mus­forscher ist seit 2020 Antisemitismus-Ansprechpartner des Landes Berlin. Dort ist das antisemitische Spektrum besonders divers. Salzborn schreibt: „Antisemitismus ist Antisemitismus – egal ob er von Neonazis, IslamistInnen oder AntiimperialistInnen formuliert wird und egal ob er religiös (…), völkisch-rassistisch, schuldabwehrend oder antiisraelisch auftritt.“

Demokratie wehrhaft machen

Salzborn führt in klarer Sprache an die Fakten heran und bietet Interpretationen, ohne belehrend zu sein. Dadurch wird das lesenswerte Buch zu einem Debattenbeitrag für ein breites Publikum. Dort gehört die Debatte auch hin. Denn die Wehrhaftmachung der Demokratie ist zu wichtig, um sie allein Politikern zu überlassen.

Zum Kern dieser Aufgabe gehört das Aufstehen gegen Antisemitismus – vor allem durch gut begründete Meinungen in demokratischem Diskurs. Denn fundierte Meinungen müssen ihre Freiheit nicht fürchten. Unabhängig davon, welche politischen Ansichten die Leser haben mögen, unterstreicht das Buch mit guten Argumenten eine seit Weimarer Zeiten offenbare Binsenweisheit: Man kann nicht gleichzeitig Antisemit sein und Demokrat.

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