Zukunft des Fußballs: Vorwärts zu den Wurzeln
Wer wissen will, welche Wege der Profifußball einschlagen kann, muss nach England schauen. Unser Autor war in der Premier League unterwegs.
Keine Ahnung, aber mit dem nötigen Kleingeld kann ich mir ein bisschen was davon kaufen, denke ich Ende September 2023. Ich stehe im Fanshop des FC Arsenal direkt am Emirates Stadion. Das Heimtrikot kostet 110 Pfund, umgerechnet 128 Euro, ein Arsenal-Lederarmband-und-Uhren-Set 132 Pfund, ein gerahmtes und von den Spielern signiertes Trikot 1.000 Pfund. Es ist Nordlondon-Derby und der Andrang erinnert mich an Tage bei Aldi-Filialen, an denen billige, aber gute Elektroware im Angebot ist.
Ich bin mit einem Austauschprogramm nach England gekommen, weil ich Fußball liebe und der Fußball in England geboren wurde. Weil seine Kommerzialisierung, über die wir in Deutschland streiten, in England nicht mehr zur Debatte steht. Weil der Fußball aus Sicht eines Fußballromantikers hier seinem Tod am nächsten ist.
Weil gleichzeitig keine Liga der Welt attraktiveren Fußball und größeren Umsatz bietet als die Premier League. Und weil dieser Ort deshalb etwas darüber sagen kann, was in Deutschland droht, wenn in der Zukunft ein Investorendeal mal nicht platzt.
Für das Spiel gegen die Tottenham Hotspurs habe ich kein Ticket bekommen. Wer Arsenal im Stadion sehen will, muss Mitglied werden. Damit hat er aber noch lange kein Ticket, die werden verlost. Es gibt unterschiedliche Mitgliedschaften für unterschiedliche Chancen auf ein Ticket.
Schnurrbart-Vorbild
Die Red Membership sichert einen Platz auf der Warteliste für die Silver Membership – und damit bessere Chancen. Weil ich das alles so kompliziert finde wie damals als Fünfjähriger die Abseitsregel, fahre ich einfach zum Stadion in den Nordlondoner Stadtteil Holloway.
Der Weg von der Bahnstation führt über kleine Straßen, die gesäumt sind von Einfamilienhäusern und Imbissbuden. Google schlägt mir den Gunners Pub als Alternative zum Emirates vor. Das Spiel wird hier auf großen Leinwänden übertragen, an den Wänden hängen Fotos der Arsenal-Legenden Ian Wright und Thierry Henry. Auf einem Mannschaftsfoto erkenne ich Torwart David Seaman wieder, den Mann, wegen dem ich heute so gerne einen Schnurrbart trage.
Arsenal geht in Führung. Kurz vor der Halbzeit zieht James Maddison von Tottenham auf der linken Außenbahn spektakulär an Bukayo Saka vorbei, passt den Ball von der Grundlinie zurück in den Strafraum. Spurs-Kapitän Heung-Min Son schiebt ihn zwischen drei gegnerischen Spielern elegant ins freie lange Eck. Später gleicht er einen weiteren Rückstand aus, woraufhin Arsenal-Fans im Gunners-Pub schreien:
„What do we think of Tottenham?“
„Shit!“
„And what do we think of shit?“
„Tottenham!“
Es sind gerade so viele Leute da, dass niemandem auffällt, dass ich mir kein teures Bier bestelle. Seine Ausgaben im Rahmen zu halten, ist als Fußballfan in London nicht einfach. Im Gunners falle ich ohnehin nicht als Fremder auf, die Arsenal-Fans hier sprechen Urdu, Chinesisch, Türkisch und andere Sprachen. Das bringt meine Fußballglobalisierungskritik ins Wanken. Es erinnert mich auch an eine unangenehme Begegnung in der Alten Försterei bei Union Berlin, als mir ein Ostberliner Fan einmal sagte, ich solle mich zurück nach Kreuzberg verpissen.
Der FC Arsenal gehört dem US-Milliardär und Immobilienmogul Stan Kroenke. Bei Tottenham Hotspurs ist der Milliardär Joe Lewis Hauptanteilseigner. In England mischen längst auch russische Oligarchen und arabische Petrodollar mit. Viele englische Fans empfangen sie sogar mit offenen Armen: Bei Newcastle United wurde 2021 die Übernahme durch einen saudischen Staatsfonds euphorisch gefeiert. Fans hofften, wieder ganz oben mitspielen zu können.
Die „Dildo Boys“
Bei West Ham United, einem anderen Londoner Premier League-Club, sind seit 2010 David Gold und David Sullivan Mehrheitseigner. Sullivan machte sein Geld in der Pornoindustrie, Gold mit Sexshops. Manche West Ham-Fans schimpfen sie deshalb „Dildo Boys“. Unter ihnen verließ der Verein 2016 nach 112 Jahren – ohne Not, wie viele Fans sagen – sein Zuhause im migrantischen und proletarischen East End.
Heute absolviert West Ham seine Heimspiele im großen und modernen Olympiastadion ein paar Kilometer weiter westlich, umgeben von Wiesen, Kanalläufen und einem Einkaufszentrum, irgendwo im Nirgendwo. Da, wo einst das legendäre Stadion Upton Park stand, sind heute teure Wohnungen.
Für ein Heimspiel gegen Newcastle United ergattere ich im Oktober online eine Karte. Ich bekomme sogar einen Platz hinter einem der Tore. In Deutschland ist hier die beste Stimmung: Die Stehplätze sind billig und die Ultras organisieren den Support. Bei Hertha BSC kostet so ein Ticket 15 oder 20 Euro, was einige Fans nicht davon abhält, über zu hohe Ticketpreise zu klagen.
Für meinen Sitzplatz im Bobby Moore Stand, benannt nach dem Kapitän, der die englische Nationalmannschaft 1966 zum WM-Titel führte, zahle ich 65 Pfund, also umgerechnet 76 Euro. Die Stimmung ist so öde, dass mir das Berliner Olympiastadion, das nicht als besonders stimmungsvoll gilt, wie ein Traum vorkommt.
In der Premier League ist Alkohol auf den Rängen verboten. Vor dem Spiel wird deshalb so viel reingekippt wie nur geht. Kurz vor Anpfiff eilen die Besucher dann zu den Plätzen. Wo soll da noch eine Choreo reinpassen? Dass die berühmte Stadionhymne „I’m Forever Blowing Bubbles“, bei der Seifenblasen durch das Stadion fliegen, nur ganz kurz eingespielt wird, scheint außer mir niemanden zu stören.
Auch nach Anpfiff bleibt es bis auf wenige spontane kurze Gesänge ruhig. Organisierte Fans suche ich vergeblich. Das einzige, was hier organisiert ist, ist der Alkoholkonsum: Lange vor Ende der ersten Halbzeit, ab der 30. Minute, steuern die ersten die Bierschlange an, um die 15 Minuten Halbzeitpause so effektiv wie möglich zu nutzen.
Teures Bier
In der 33. Minute sehe ich einen Mann mit seinem Sohn auf den Schultern die Treppen hochsteigen. Der kleine Junge protestiert erst, dann fleht er seinen Vater an, noch nicht zu gehen. Der hält kurz an, aber nur bis der Ball im Aus ist. Das Bier kostet knapp 7 Pfund, eines der teuersten in Englands Stadien.
Als die West Ham-Spieler nach Abpfiff nicht in die Kurven gehen, um sich bei den Fans zu bedanken, wie ich es kenne, wundert mich das nicht mehr. Beim Ostlondoner Arbeiterklub, über den mal der klischeereiche, aber reichweitenstarke Film „Green Street Hooligans“ mit Elijah Wood gedreht wurde, scheint die Stimmung weggentrifiziert.
Ein paar Wochen später finde ich sie doch noch, wenn auch mit Abstrichen bei der fußballerischen Qualität. Ich besuche den Siebtligisten Dulwich Hamlet FC im Südosten Londons. In den Champion Hill in einem malerisch-dörflichen Stadtteil passen 3.000 Personen, der Eintritt kostet 12 Pfund.
Der Guardian nannte den Verein einmal „London’s most hipster football club“. Das kann ich nachvollziehen, wenn ich den jungen, aufgebrezelten Teil der Anhängerschaft betrachte, der an einem sonnigen Samstagnachmittag auch am Kreuzberger Landwehrkanal spazieren gehen könnte. „Don’t Buy The Sun“, steht auf einem Banner hinter dem Tor über Großbritanniens auflagenstärkstes Boulervardblatt.
Streifen der Regenbogenfahne leuchten auf dem Beton rund um das Spielfeld. Das Geländer auf den Stehrängen ist vollgeklebt mit Antifastickern, auch vom Hamburger Fünftligisten Altona 93, mit dem die Südostlondoner eine Fanfreundschaft pflegen.
Selbstironische Gesänge
Ich frage drei junge Männer, warum sie sich Fußball der siebten Liga anschauen.
„Wir wohnen alle in der Gegend, das ist ein Treffpunkt“, sagt der Erste.
„Weil man hier beim Fußballgucken Bier trinken kann“, sagt der Zweite.
„Hier geht es nicht um Fußball, der Fußball hier ist grottenschlecht“, sagt der Dritte.
Ich kann das an diesem Tag kaum beurteilen, weil ich vor lauter Gesprächen nicht viel vom Spiel mitbekomme. Dafür finde ich heraus, warum die Fans von Dulwich, die während der Halbzeit von den Stehplätzen hinter dem einen Tor zu jenen hinter dem anderen Tor wechseln, um so nahe wie möglich dran zu sein, falls ihre Mannschaft doch mal ein Tor schießt, immer wieder diesen einen Satz singen:
„Tuscany! Tuscany! We’re the famous Dulwich Hamlet and we look like Tuscany!“
Als das alte Stadion in den Neunzigern abgerissen und durch ein neues ersetzt werden sollte, gab es Proteste. In einem Brief an den Gemeinderat, der bei einer Sitzung unter dem Gelächter der Anwesenden vorgelesen wurde, schrieb ein sentimentaler Fan, dass die Gegend der Toskana ähnele und nicht durch eine Modernisierung zerstört werden dürfe.
Er wurde überstimmt und das neue Stadion wurde gebaut. Heute machen sich die Fans von Dulwich diese Geschichte in ihren selbstironischen Gesängen zu eigen – und erinnern daran, dass nicht alles, was neu ist, schlecht sein muss.
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