Ausstellung über rechte Gewalt seit 1945: Hamburgs Baseballschläger-Jahre
Bei rechter Gewalt denken viele zuerst an die 1990er-Jahre und Ostdeutschland. Dabei war Hamburg nur früher dran, wie eine Ausstellung zeigt.
Jedes Jahr zeigt die Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen hier eine Ausstellung, immer um den Holocaustgedenktag am 27. Januar. Dieses Jahr geht es um „Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute“. Zum ersten Mal beschäftigt sich die Ausstellung auch mit der Gegenwart.
„Der Ort war schon wichtig – ins Herz der Stadt“, sagt Alyn Beßmann-Šišić von der Stiftung. Sie hat die Ausstellung kuratiert, mit ihrem Kollegen Lennart Onken und in Zusammenarbeit mit dem Journalisten Andreas Speit, der auch für die taz arbeitet.
„Die Ausstellung beginnt mit den Menschen, die in Hamburg ermordet worden sind“, sagt Speit. Es sind fünf Namen – Nguyen Ngoc Châu und Đo Anh Lân, Mehmet Kaymakçı, Ramazan Avcı und Süleyman Taşköprü – mit fünf Geschichten. Es sei wichtig, nicht nur über Täter zu sprechen, sagt der Rechtsextremismusexperte.
Der jüngste Fall ist keine vier Monate alt
Ihre Geschichten finden sich auf Aufstellern, die um die Säulen der Rathausdiele herum angeordnet sind. Besucher:innen können sich so durch den Raum lesen, Jahrzehnt für Jahrzehnt, zur Geschichte rechtsextrem motivierter Gewalt seit 1945 – zu den Opfern und den Tätern.
Der jüngste Fall ist keine vier Monate alt. Eine knappe Notiz beschreibt, wie am 23. Oktober 2023 rund 40 Jugendliche in Hamburg-Harburg randaliert sowie rechtsextreme und antisemitische Parolen gesprüht haben. Einem Lokalsender sagte einer der Jugendlichen: „Ich wünsche mir Adolf Hitler zurück. Vergast die Juden!“
„Wir konnten für die Ausstellung nicht systematisch forschen, sondern haben angefangen in Presseartikeln und Antifa-Archiven zu suchen und geguckt, was zusammenkommt“, sagt Alyn Beßmann-Šišić.
ist zu sehen bis zum 18. Februar, Mo–Fr 7–19 Uhr, Sa 10–18 Uhr, So 10–17 Uhr in der Rathaushalle
Am Ende hätten sie rund 500 Fälle rechter Gewalt in Hamburg gesammelt, von denen einige in der Ausstellung dokumentiert sind. Auch wenn die drei Kurator:innen sich schon lange mit dem Thema auseinandersetzen, sei man über die Anzahl erschrocken gewesen, sagt Beßmann-Šišić. „Als wir angefangen haben, war uns nicht klar, was uns entgegenschlagen würde.“
Zum Hamburger Selbstverständnis gehöre, dass man weltoffen und liberal ist, sagt Andreas Speit. „Aber die Geschichte zeigt, dass es hier sehr früh eine militante rechtsextreme Szene gab“.
Im Jahr 2019 prägte der Zeit-Redakteur Christian Bangels für die 1990er nachträglich die Bezeichnung „Baseballschläger-Jahre“. Der Begriff wird seither oft synonym für das Jahrzehnt in den ostdeutschen Bundesländern verwendet. Überhaupt denken wohl viele beim Stichwort rechte Gewalt zuerst an die 1990er, im Osten.
„Die Baseballschläger-Jahre fanden in Hamburg in den 80ern statt“, sagt Speit, „nur eben nicht im kollektiven Gedächtnis.“ Die Ausstellung erzählt von diesem Jahrzehnt, in dem es nahezu täglich Angriffe, besonders auf Migrant:innen gegeben hat. „Vieles ist unter dem Thema ‚Jugendgewalt‘ verbucht worden“, sagt Speit. Es gebe eine Fülle von rechts motivierten Taten, „wenn man erst mal genau hinschaut“, sagt Beßmann-Šišić.
Drastischer Anstieg schon vor dem 7. Oktober
Im vergangenen Herbst ergab eine kleine Anfrage der Hamburger Linksfraktion, dass rechte Straf- und Gewalttaten im dritten Quartal 2023 im Vergleich zum Vorjahr deutlich häufiger geworden sind – schon vor dem 7. Oktober, dem Massaker der Hamas, nach dem antisemitische Straftaten drastisch zunahmen.
Nur einen Tag nach der Eröffnung am 19. Januar war „bis heute“ plötzlich sehr nah: Nur wenige hundert Meter vom Rathaus entfernt demonstrierten 180.000 Menschen unter dem Motto „Hamburg steht auf“ gegen Rechtsextremismus und neonazistische Netzwerke.
Wie die Kurator:innen auf die aktuellen Proteste gegen die AfD blicken? „Erfreut“, sagt Andreas Speit. Allerdings sei es wichtig, rechte Gewalt immer im Kontext zu betrachten. „Rassismus in der Mitte der Gesellschaft ist immer Beschleuniger für rechtsextreme Gewalttäter.“ Daher müssten Ressentiments und Rassismus der ganzen Gesellschaft in den Blick genommen werden. „Wir müssen über uns selber nachdenken“, sagt Speit.
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