Ukrainische Geflüchtete: Die letzten Meter der Flucht
Zwei Jahre nach Kriegsbeginn in der Ukraine kommen immer noch Geflüchtete an. Am Bahnhof warten ein paar Freiwillige auf sie.
In den ersten Wochen nach Kriegsbeginn, im Februar 2022, war Zhenja wie gelähmt. „Ich hatte massive Schuldgefühle.“ Der selbstständige Künstler aus Russland merkte schnell, was er mit seinen Sprachkenntnissen bewirken konnte. Heute kommen zwar viel weniger Menschen an als zu Beginn des Angriffskrieges, und doch: „Ich muss nur 10 Minuten im Reisezentrum stehen“, sagt Zhenja, „und schon habe ich jemandem geholfen.“
Zehnja und Sergej gehören zu den wenigen Menschen, die noch regelmäßig am Bahnhof auf ukrainische Geflüchtete warten. Sie nennen sich Berlin Arrival Support (BAS) und schließen eine kleine Lücke auf dem langen Weg vom Krieg in die Sicherheit: Sie helfen geflüchtete Ukrainer:innen, ihren Weg vom Hauptbahnhof zur S-Bahn-Station Jungfernheide zu finden. Nur von dort fahren die Busse zum Aufnahmezentrum am ehemaligen Flughafen Tegel.
Die BAS hat schon 3 Tage nach Kriegsbeginn Aufnahmestrukturen am Hauptbahnhof aufgebaut. Nach eigenen Angaben hatten sie zeitweise bis zu 700 Freiwillige am Hauptbahnhof, Südkreuz und ZOB. Damals kamen noch täglich mehr als 10.000 Menschen aus der Ukraine an. Mittlerweile werden nach Angaben des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) in der Aufnahmeeinrichtung Tegel täglich rund 40 Personen registriert.
Welcome Hall abgeräumt
Im ersten Jahr nach Kriegsbeginn war das Land Berlin auch am Hauptbahnhof mit einem Zelt auf dem Europaplatz vertreten. Die sogenannte Welcome Hall war rund um die Uhr geöffnet und diente der Erstversorgung. In Sonderbussen wurden die Geflüchtete dann in das Ankunftszentrum Reinickendorf gebracht. Dort wurden sie vom Landesflüchtlingsamt oder von Hilfsorganisationen in Privatunterkünften untergebracht.
Doch seit 1. Oktober 2023 gibt es die Welcome Hall nicht mehr. „Wir mussten auf die Kosten schauen“, sagt Monika Hebbinghaus, Pressesprecherin des LAF zur taz. Menschen könnten sich im Internet informieren, wie sie zum S-Bahnhof Jungfernheide kommen und dann mit dem Bus nach Tegel fahren.
Kurz vor 17 Uhr ruft Zhenja alle Freiwilligen zusammen. Auf die Ankunftstafel muss er nicht mehr schauen, er weiß, dass der Zug aus Przemysl Glowny um 17.06 Uhr auf Gleis 14 ankommt. Das ist die wichtigste Verbindung für Geflüchtete aus der Ukraine, weil die polnische Stadt so nah an der Grenze liegt. Google Maps zeigt von Lviv aus eine Fahrtzeit von 2 Stunden an.
Die BAS kooperiert mit der NGO Rubikus, die Fluchtrouten aus der Ukraine organisiert und bezahlt. An diesem Dienstag sind 2 Familien angekündigt. „Heute wird es etwas chaotisch, sie sind auf 3 Waggons aufgeteilt“, sagt Zhenja.
„Viele Leute wissen nicht, dass am Hauptbahnhof noch Menschen ankommen“
Heute warten 6 Personen mit Warnwesten und blau-gelben Aufklebern auf den Zug. Ungewöhnlich viele. Eine davon zum ersten Mal: Viktoria ist vor 2 Jahren selbst aus der Ukraine geflohen. „Ich hatte Glück, weil ich hier Freunde hatte“, sagt sie.
Es sei schwer, Freiwillige zu finden, sagt Zhenja. „Viele Leute wissen nicht, dass am Hauptbahnhof noch Menschen ankommen.“ Er habe auch keine Hoffnung, dass es in der Ukraine besser wird. Nach dem Tod des Oppositionellen Alexei Nawalny sehe er keine Hoffnung für sein Heimatland. „Ich will keine Belohnung oder Medaille, aber ich kann nicht mehr aufhören.“
Der grau-blaue Zug rollt mit 5 Minuten Verspätung ein. Die BAS-Helfer:innen verteilen sich und suchen nach den Neuankömmlingen. „Hier!“, ruft Sergej. Er hat die 10-köpfige Familie gefunden. Die andere Familie macht sich mit Zhenja auf den Weg zum Anschlusszug nach Waiblingen.
Doch als das Gleis immer leerer wird, bleibt eine Gruppe übrig. Ein kleiner Junge klammert sich an seinen Teddybären. Er trägt einen Rucksack. Seine Augen leuchten vor Neugierde, sein Gesicht wirkt müde von der langen Reise. Um ihn herum stehen seine Mutter, 5 Geschwister und 3 kleine Koffer.
Sie versuchen in Deutschland ihr Glück
Ruslana und ihre 6 Kinder waren nicht angemeldet. Sie stammen aus der Ukraine, haben aber in den letzten 2 Jahren in Krakau gelebt. Dort hätten sie unter Rassismus gelitten, die Kinder durften wohl nicht zur Schule gehen. Sie konnten es nicht länger ertragen und versuchen in Deutschland nun ihr Glück, erklärt Ruslana auf Ukrainisch.
Die Reisegruppe bricht auf – Die BAS-Helfer:innen umkreisen die Gruppe und halten alle zusammen. Nach 2 Stunden erreichen sie den Bahnhof Jungfernheide. Den letzten Schritt müssen die Geflüchtete alleine gehen. In den Bus nach Tegel dürfen nur Menschen, die dort wohnen oder arbeiten.
Sergej hievt den letzten Koffer in den Bus, Viktoria tauscht mit Ruslana Kontaktdaten aus. Sie will Bescheid wissen, wenn sie sicher ankommen sind. Dann geht Viktoria mit Sergej zurück zur S-Bahn und seufzt. „Ich habe das Gefühl, heute etwas erreicht zu haben“, sagt sie zufrieden.
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