Zeitfür eineLuftveränderung

Schadstoffe, Aerosole, CO2: Schlechte Raumluft lässt Menschen öfter krank werden und unkonzentrierter arbeiten. Doch viele der während Corona angeschafften Filteranlagen stehen ungenutzt in der Ecke. Wie kommen wir an die frische Luft?

Von Franca Parianen
(Texte) und Nadine Fischer (Grafik)

Es ist ein Aufruf zum Protest. „Ich wünschte, dass es Eltern gäbe, die sagen: Ich schicke mein Kind nicht auf diese Schulen, solange die Luftqualität dort auf der Teststufe ‚schrecklich‘ steht.“ Dieser Satz stammt aus keiner Corona­debatte, sondern aus dem Jahr 1859, von Florence Nightingale, der Pionierin der britischen Krankenpflege. Die wusste nicht nur, wie schädlich schlechte Luft ist. Sie träumte auch von Maßnahmen wie Messgeräten oder Häusern, die nach dem Prinzip guter Belüftung gebaut werden. Heute, 150 Jahre später, sind all diese technischen Voraussetzungen längst da. Aber das unsichtbare Problem ist trotzdem nicht weg.

Mit Corona wurde Luft plötzlich sehr wichtig. Genauer gesagt: Innenraumluft. Die Pandemie ließ uns Fenster öffnen und Treffen nach draußen verlagern. Deutschland schien der Herausforderung mit seinen Kulturtechniken „Stoßlüften“ und „Fenster auf Kipp“ sogar außerordentlich gut gewachsen. Allerdings blieb es vielerorts beim offenen Fenster. Statt langfristigen Konzepten gab es frierende Schulkinder und anschließend den verständlichen Wunsch, das alles schnell zu vergessen. Dabei wäre eine Luftveränderung immer noch nötig. Denn was wir einatmen, sollte dringend besser werden.

Da sind zum Beispiel die vielen Krankheitserreger, die uns in Tröpfchen oder Aerosolen um die Ohren fliegen. Das Robert-Koch-Institut schätzte, dass sich im geballten Infektionsgeschehen dieses Winters zeitweise 8,9 Millionen Menschen gleichzeitig mit Atemwegserkrankungen angesteckt hatten. Wenn mehr als ein Zehntel der Bevölkerung flachliegt, wird Arbeit nicht erledigt und Kitagruppen bleiben geschlossen. Das Institut für Weltwirtschaft schätzt die Kosten solcher Ausfälle in Deutschland auf bis zu 42 Milliarden Euro innerhalb eines Jahres. Dazu kommen die allgemeine Erschöpfung und die Frage, ob das jetzt wirklich jedes Jahr so weitergeht.

Tatsächlich ist die Art unseres heutigen Zusammenlebens für Atemwegserkrankungen ein ziemliches Fest. Nicht nur, weil wir große Teile unserer Zeit in Gebäuden verbringen, sondern wohl auch, weil es in ihnen weniger zieht. Das stellte in den 1980er Jahren zum Beispiel das amerikanische Militär fest, als es neue Kasernen baute und die Re­kru­t*in­nen plötzlich ständig krank wurden. „Dicht versiegelte Gebäude mit geschlossenem Lüftungssystem“, bemerkte man, „erhöhen das Risiko für Atemwegserkrankungen.“

Seitdem haben unterschiedliche Studien den Zusammenhang zwischen mangelnder Belüftung und Krankheitsausfällen immer wieder bestätigt: unter Werksarbeitern von Polaroid, in dänischen Kitas oder kalifornischen Schulen.

Das nächste Problem mit schlecht gelüfteten Räumen ist, dass die CO2-Konzentration – gemessen in parts per million, also Teile pro einer Million Luftmolekülen – durch die ausgeatmete Luft dort ziemlich schnell ansteigt. Sie sollte in Räumen unter 1000 ppm liegen, das gilt auch im Arbeitsrecht als Richtwert, und während Krankheitswellen ruhig unter 800 ppm.

In Schulen haben Forschende Werte weit jenseits der 4.000 ppm gemessen. Schon bei 2.500 ppm fiel Versuchspersonen komplexe Problemlösung deutlich schwerer. Dabei geht es nicht nur um CO2 an sich, sondern die Konzentration steht als Anzeiger für all die anderen organische Stoffe, die wir auch ausatmen. In Kombination führt beides zu Kopfschmerzen, Müdigkeit und langsamem Denken.

Eine ganze Reihe von Studien zeigt, dass die Leistung von Schü­le­r*in­nen bei schlechter Luftqualität abnimmt. For­sche­r*in­nen vergleichen den Effekt mit dem eines ausgefallenen Frühstücks. Der Zusammenhang gilt aber auch bei Erwachsenen. In einer Studie mit Büroangestellten schickte man ihnen regelmäßig kognitive Tests aufs Handy. Die Testpersonen wurden deutlich langsamer, wenn Feinstaub- und CO2-Werte anstiegen. Auch Schachprofis machen dann mehr Fehler.

Natürlich gibt es neben Kohlendioxid noch echte Luftverschmutzer. 99 Prozent der Menschheit atmen ungesunde Stoffe ein, sagt die WHO. Geschätzt sterben pro Jahr 500.000 Menschen in der EU frühzeitig daran, weltweit sogar sechs bis sieben Millionen. Ungefähr die Hälfte dieser Todesfälle werden der Innenraumverschmutzung zugerechnet. Durch Feinstaub, Ozon, Schwefel- und Stickstoffdioxid. Durch offenes Feuer, Kamine und Gasherde. Durch Schimmel und feuchte Wände. Indem Straßenschmutz durchs Fenster kommt. Oder auch durch Drucker, Holzwerkstoffe, Baumaterialien, Reinigungsmittel und vieles andere, was Schadstoffe ausdünstet.

Zu den langfristigen Folgen schlechter Luft zählen Asthma und Krebs, Frühgeburten und frühere Demenz

Auch diese Probleme werden durch Modernisierung nicht unbedingt besser. Neue oder renovierte Gebäude sind tendenziell stärker durch sogenannte flüchtige organische Verbindungen belastet. Büros mit Glasfassade machen das Lüften schwer. Und der Trend zur Wohnküche lässt uns die extra hohe Feinstaubbelastung der Küche bis an den Couchtisch verbreiten.

Im Englischen spricht man auch vom „Sick Building Syndrom“, wenn der längere Aufenthalt in Häusern oder Büros krank macht. Zu den Symptomen gehören Irritationen in Auge, Nase, Mund und Haut, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten – und Anfälligkeit für Atemwegserkrankungen. Die langfristigen Folgen schlechter Luft beinhalten Asthma, Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen und reichen von Frühgeburten bis zu früherer Demenz. Neben unzähligen Lebensjahren kostet das weltweit jährlich mehrere Billionen Dollar – an verlorener Arbeitszeit und Gesundheitskosten.

Wenn es so klar ist, dass wir mit besserer Raumluft gesünder als auch produktiver sein könnten – warum tut sich nicht schneller was? Und hat zumindest Corona einen Anschub gegeben?

Innenraumluft wird so routiniert übersehen, dass zu Beginn der Pandemie selbst die Wissenschaftskommunikation Zeit brauchte, um ihre Aufmerksamkeit darauf zu fokussieren. Stattdessen drehten sich die ersten Empfehlungen um Händewaschen und Desinfektion.

Doch noch 2020 explodierten dann die Suchanfragen nach Luftfiltern und in der medizinischen Datenbank Pubmed verdoppelte sich zeitweise die Zahl der Artikel zum Thema Belüftung. Die WHO verschärfte nach 16 Jahren ihre Empfehlungen für Raumluftqualität, gefolgt von den einflussreichen amerikanischen und europäischen Heizungsbaugesellschaften. US-Präsident Joe Biden versprach Hunderte Milliarden und Luftqualitätsstandards für 1.500 öffentliche Gebäude. Es formierten sich Elterninitiativen, die das forderten, was Florence Nightingale vorschwebte: bessere Luftqualität in Schulen! In vielen Ländern der Welt wurde in Filter und Lüftungen investiert. Deutschland gab über eine Milliarde Euro für fest verbaute Lüftungsanlagen an Schulen und Kitas aus.

Teile einer Bundesförderung für mobile Luftreiniger wurden hingegen nie abgerufen. Und in vielen Büros scheinen die Luftfilter mittlerweile ungenutzt in der Ecke zu stehen. Nachdem der Landtag von Nordrhein-Westfalen 2021 stolz die Anschaffung von 41 Luftfilteranlagen verkündete, antwortete er zwei Jahre später auf eine Anfrage hin, dass keine Luftfilter mehr im Einsatz sind.

Offenbar verbinden wir Filter assoziativ mit immerwährenden Lockdowns, ausgefallenen Weihnachtsmärkten und anderen Maßnahmen, von denen viele hoffen, dass sie nie wiederkommen. Dabei könnten sie stattdessen als Systemaufrüstung verstanden werden, von der wir im Idealfall fast so wenig bemerken wie von der Filteranlage unseres Trinkwassers.

Ein Weg dahin könnten gesetzliche Vorgaben sein. In Belgiens Bars traten im vergangenen Sommer die europaweit ambitioniertesten Regelungen in Kraft. Dort sind jetzt unter anderem CO2-Höchstwerte vorgeschrieben. Südkorea und Japan haben längst Luftqualitätsrichtlinien. Erhebungen zufolge halten sich 80 Prozent der japanischen Unternehmen daran. In Peru erleichterte das höchste Gericht im September Angestellten, ihre Arbeitgeber für schlechten Infektionsschutz zu verklagen, und bezog sich auf die WHO-Richtlinien für Luftqualität.

Der Schmutz in unserer Zimmerluft kommt aus unterschiedlichen Quellen: Ausdünstungen aus Küche, Möbeln und Reinigungsmitteln. Feinstaub, Milben, Pollen und Tierhaare in Teppichen oder Polstern. Zigarettenrauch und Ruß aus Kaminen. Dazu kommen beim Ausatmen CO2, Krankheitserreger und organische Materie. Was die Luft besser macht: Fenster auf, Belüftungsanlagen rein und Luftfilter an. Pflanzen. Und CO2-Messgeräte, die Alarm schlagen.

2023 richtete die europäische Division der WHO ihre erste Welt-Innenraumluft-Konferenz aus, eröffnet wurde sie mit den Worten: „Wenn wir in den letzten Jahren nicht gelernt haben, welche Bedeutung die Luft, die wir atmen, für jeden Teil unseres Lebens hat, dann hätten wir eine echte Chance verpasst, die Welt vorwärtszubewegen.“

In Ansätzen ist eine weltweite Verbesserung also durchaus vorhanden – nur fast so schlecht sichtbar wie der Schmutz in unserer Luft.

Ein älteres Beispiel für stille Erfolgsgeschichten für saubere Luft sind EU-weite Regelungen zum Umgang mit krebserregenden Stoffen. Solche Vorgaben haben etwa geholfen den Gebrauch von giftigem Formaldehyd zurückzudrängen, das Möbel ausdünsten, wenn es beim Bau genutzt wird. Eine Umstellung, die uns weitaus gesünder macht, ohne dass wir im Alltag je darüber nachdenken.

Die Aerosolforscherin Lidia Morawska ist der Frage nach dem Fortschritt beim Thema Luftqualität empirisch nachgegangen. Sie selbst hat an den WHO-Richtlinien zum Thema mitgewirkt und wurde 2021 vom Time Magazine zu einer der einflussreichsten Personen des Jahres gewählt. Vor Kurzem hat Morawska die Luftqualitätsstandards von 100 Ländern verglichen. Ihr Fazit: „Nie in unserer ganzen Geschichte gab es so viel Bewegung für bessere Luftqualität wie jetzt.“