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Ex-Staatsanwalt auf der AnklagebankKindesmissbrauch im Schlaf?

Vor dem Landgericht Lübeck wird einem Ex-Staatsanwalt ein sexueller Übergriff auf seinen Sohn vorgeworfen. Er will die Tat im Schlaf begangen haben.

Prozessauftakt Ende Januar in Lübeck: Richterin Helga von Lukowicz hat mit dem Ex-Staatsanwalt einen früheren Kollegen vor sich Foto: Marcus Brandt/dpa

Lübeck taz | Vor dem Landgericht in Lübeck dämmert es schon, als das Video startet. Detailliert und mit aufgeweckter Stimme erzählt ein achtjähriger Junge in einer Videoaussage vom Morgen des 27. März 2019. Er sei von einer Berührung aufgewacht, sagte er, dann habe ihn sein Vater, in dessen Bett er schlief, zu sexuellen Handlungen aufgefordert. Als er sich wehrte, habe sein Vater ihn festgehalten. „Ich hatte richtig Angst“, sagt er in dem Video. Danach sei der Vater ins Bad gegangen. „Ich weiß, dass es kein Traum war“, ergänzt der Junge, „weil mein Hund im Zimmer war. Ich sagte dem Hund, er soll dableiben.“

Im Gerichtssaal herrscht konzentrierte Stille. Der Vater des damals Achtjährigen sitzt neben seinen zwei Anwälten und weint. Er ist wegen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs angeklagt. „Er fasste in die Pyjamahose des Jungen, berührte dessen Geschlechtsteil und auch den Anus des Jungen“, heißt es in der Anklage. Er sitzt das erste Mal auf der Anklagebank, vor Gericht war er schon oft: Der 52-jährige Angeklagte war Staatsanwalt.

Der Prozess, der zurzeit bundesweit Aufsehen erregt, ist aus mehreren Gründen ungewöhnlich. Vor Gericht will der Angeklagte sich zu den Vorwürfen nicht äußern, aber er sagte im Laufe der Ermittlungen aus, er könne sich an die Tat, die sein Sohn schildert, nicht erinnern.

Am Morgen habe der Junge seiner Mutter davon erzählt, die ihren Mann damit konfrontierte: „Was hast du mit meinem Kind gemacht?“ Er habe ungläubig und geschockt gewirkt, sagte die Mutter dem Gericht. Gleichzeitig habe er seinem Sohn geglaubt: „Der Junge lügt nicht.“ Er sprach noch am gleichen Tag mit seinem Vorgesetzten und zeigte sich kurz darauf selber an. Seine Frau reichte die Scheidung ein.

Fälle, in denen Menschen unter dem Einfluss von Schlafstörungen Verbrechen begehen, sind extrem selten

Seinen Blackout erklärte er sich zuerst damit, dass er am Abend viel Alkohol getrunken hatte. Mitte April, berichtete seine Frau, habe er allerdings eine andere Erklärung gehabt. Er habe ihr einen Link auf eine Seite über „Sexsomnia“ geschickt, das ist eine Erkrankung, bei der Menschen schlafwandeln und währenddessen Sex haben.

Grundsätzlich sei es durchaus möglich, beim Schlafwandeln Dinge zu tun, die im wachen Zustand nicht dem eigenen moralischen Kompass entsprechen, sagte Thomas Pollmächer, Direktor des schlafmedizinischen Zentrums im Klinikum Ingolstadt, der Deutschen Presse-Agentur. In dem Gerichtsverfahren, das Ende Januar gestartet ist, geht es nun darum, zu klären, ob es sein kann, dass der Angeklagte seinen Sohn möglicherweise misshandelt hat, während er schlief. Das würde bedeuten, dass er zur Tatzeit nicht schuldfähig war – und straffrei bliebe.

Nicht nur für das mutmaßliche Opfer, seinen Sohn, ist das von Bedeutung. Es schließen sich auch weitere Fragen an: Welche öffentliche Wirkung hätte ein Freispruch in diesem Fall? Wäre er eine Art Freifahrtschein für künftige Straftaten?

Fälle, in denen Menschen unter dem Einfluss von Schlafstörungen, sogenannten Parasomnien, Verbrechen begehen, sind extrem selten. 1987 beispielsweise wurde ein Kanadier freigesprochen, nachdem er seine Schwiegermutter getötet hatte. Er war schon vorher schlafgewandelt und konnte durch Gutachten nachweisen, dass er während der Tat nicht wach war.

Hat auch der ehemalige Staatsanwalt eine Parasomnie? Eine Ex-Freundin, die vor 20 Jahren mit ihm zusammen war, sagte aus, dass er damals mehrfach nachts Sex mit ihr begonnen habe, den er dann plötzlich abbrach. Am Morgen habe er sich nicht erinnern können.

Auch seine spätere Frau fand ihn eines Nachts beim Schlafwandeln im Haus, aber in den 14 gemeinsamen Jahren nur dieses eine Mal.

Zwei Gutachten zur Urteilsfindung

Zwischen den Aussagen der ZeugInnen vor Gericht gibt es Widersprüche. Anders als die Mutter sagte ein gemeinsamer Freund aus, der Vater habe den sexuellen Übergriff bestritten und sogar überlegt, den Kontakt zu seinem Sohn abzubrechen. Mitte August 2019 traf ihn seine Ex-Freundin und berichtete ihm von den Schlafwandler-Episoden in ihrer Beziehung. Er habe erschüttert gewirkt: „Das kann also doch sein!“ Über das Phänomen Sexsomnia habe er offenbar nicht viel gewusst. Aber kann das sein, sollte er seiner Frau bereits vier Monate vorher einen Link genau zu dem Thema geschickt haben?

Zwei Gutachter begleiten den Prozess, ihre Einschätzung ist wichtig für die Urteilsfindung. Ein erstes Gutachten bezeichnet die Schilderung der Ex-Freundin als typisch für Sexsomnia, die des Jungen dagegen nicht: Der Angeklagte handelte mehrstufig, „war orientiert, reagierte“. Dass der damalige Staatsanwalt in der Nacht des 27. März 2019 schlafwandelte, lässt sich demnach „nicht mit Sicherheit feststellen, aber auch nicht ausschließen“, so der Gutachter.

Der Angeklagte stand als Staatsanwalt bei der Arbeit unter Dauerdruck: Er hatte regelmäßig Gespräche mit Vorgesetzten, weil sich unerledigte Fälle in seinem Büro stapelten. Vor diesem Hintergrund hat der forensische Psychiater eine weitere mögliche Erklärung für den Übergriff: Eine „dysfunktionale Coping-Störung“. Dabei versuchen Menschen, durch Macht in einer anderen Situation Stress zu bewältigen. So könne sexueller Missbrauch „kurzzeitig Macht herstellen“. Der Angeklagte sei nicht pädophil, und „die meisten pädophilen Delikte“, sagte der Gutachter, „werden nicht von Pädophilen begangen“.

Das Urteil soll am 14. Februar gesprochen werden.

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1 Kommentar

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  • "Pädophil" im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch finde ich einen der denkbar schlechtesten Ausdrücke. Mit -phil ist da gar nichts!