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Helga Schuberts Blick aufs Ich

Der Dokumentarfilm „Sonntagskind“ bereitet eine Bühne für die Schriftstellerin Helga Schubert. Die beeindruckt als Erzählerin ihres Lebens

Nicht nur im Kinosaal schaut Helga Schubert mit Distanz auf Szenen ihres Lebens Foto: Jörg Herrmann/déja vu-Film

Von Wilfried Hippen

Im Jahr 1980 wurde die damals 40-jährige Schriftstellerin Helga Schubert aus Ost-Berlin zum Vorlesen für den Ingeborg-Bachmann-Preis nach Klagenfurt eingeladen, doch die DDR-Kulturbürokraten ließen sie nicht ausreisen. Im Jahr 2020 hat die inzwischen 80-jährige dann doch an diesem Wettbewerb teilgenommen und mit ihrem Text „Vom Aufstehen“ den Preis gewonnen. Ihr autobiografischer Erzählband „Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten“ wurde dann ein Erfolg bei der Kritik und in den Buchläden, sodass ihre späte Wiederentdeckung viel mehr als nur eine schöne Pointe ist.

Helga Schubert hat ein außergewöhnliches Leben gelebt und sie kann immer noch sehr lebendig und gestochen scharf davon erzählen. Und dies tut sie auch in dem Dokumentarfilm „Sonntagskind“, für den der Rostocker Filmemacher Jörg Herrmann sie im Jahr 2022 acht Monate lang mit der Kamera begleitete. Heute lebt Schubert in Neu Meteln bei Schwerin und pflegt ihren 96 Jahre alten Ehemann, den ehemaligen Professor für Klinische Psychologie Johannes Helm. Mit ihm verheiratet ist sie seit 1976.

Im Film sieht man die beiden zusammen am Frühstückstisch und Helga Schubert auf der Dorfstraße beim Einkaufen bei einem mobilen Tante-Emma-Laden. Doch die Home-story ist zum Glück nach ein paar Minuten abgehakt. Der Schatz, den Herrmann hier hebt, ist nämlich die Lebensgeschichte von Schubert. Mit solch einer eindrucksvollen Protagonistin ist ein Filmemacher gut beraten, sich selbst so weit wie möglich zurückzunehmen. So ist „Sonntagskind“ zwar handwerklich solide, aber auch eher konventionell inszeniert.

Historisches Material wird immerhin filmisch interessant „gerahmt“. So fährt die Kamera etwa an einer Reihe von Familienfotos vorbei, die auf einem Betonboden aufgereiht sind und im Hintergrund sieht man unscharf eine Mauer. Und Archivaufnahmen von Helga Schuberts literarischem und politischem Leben in der DDR – 1989 war sie die Pressesprecherin des zentralen runden Tisches der Protestbewegung – sieht man auf dem Bildschirm eines Fernsehgerätes aus dem späten 20. Jahrhundert, oder auch mal im Kinosaal.

Doch meistens spricht Helga Schubert direkt in die Kamera, oder sie schaut ihr über die Schulter, wenn sie literarische Veranstaltungen oder Lesungen besucht. Unsicher wirkt sie dabei nur einmal, wenn sie kleinen Kindern aus einem der Kinderbücher vorliest, die sie in den frühen 1980ern unter Titeln wie „Bimmi und das Hochhausgespenst“ verfasst hat.

Der Film „Sonntagskind“ läuft aktuell im Zeise in Hamburg, ab 15. 1. im Universum in Braunschweig, am 16. 1. im Kino im Kleinen Theater in Bargteheide, ab 18. 1. im Capitol in Schwerin sowie am 24.2. im Kino Lilienthal

Sie selbst ist offensichtlich nicht sehr glücklich über diese Phase ihrer literarischen Laufbahn: Sie erzählt anschließend auch davon, von welchem Alter an Kinder überhaupt dazu fähig sind, Ironie zu erkennen.

Damit kennt sie sich aus, denn sie hat Psychologie studiert und war auch lange als klinische Psychologin tätig. Dies machte sie als Schriftstellerin in der DDR unabhängig. Sie hatte auf diese Weise immer ein Einkommen und konnte nicht wie viele ihrer Kol­le­g*in­nen mit der Drohung eines Schreibverbots erpresst werden.

Ein „Sonntagskind“ hatte sie ihre Mutter genannt, zu der sie ein widersprüchliches Verhältnis pflegte, über das sie in „Vom Aufstehen“ geschrieben hat. Besonders liebevoll kann es nicht gewesen sein.

Für ihren Roman „Das verbotene Zimmer“ beschimpfte ein SED-Funktionär sie als „Analphabetin“

Schubert erzählt im Film aber auch davon, dass ihre Mutter drei Heldentaten für sie vollbracht habe: Sie ließ sie nicht abtreiben, schleppte sie auf der Flucht im Krieg in einem dreirädrigen Kinderwagen in die Freiheit und entgegen des Befehls ihres Vaters brachte sie sich selbst und ihre Tochter bei Kriegende nicht um. In diesen Erinnerungen, die aus Helga Schubert ganz natürlich herauszuquellen scheinen – Herrmann sagt in einem Interview, sein einziges Problem wäre es gewesen, ihren Redefluss zu dämmen –, wird deutsche Geschichte lebendig. Schubert nämlich bleibt immer konkret und erzählt mit dem Instinkt einer guten Erzählerin.

Weil sie ihren eigenen Kopf hatte, war sie unbequem. Für ihr Buch „Judasfrauen“ recherchierte sie über Denunziantinnen im Dritten Reich, weil sie so das Narrativ von den Frauen als Opfern und Männern als Tätern im NS-Regime korrigieren wollte. Damit würde sie sich auch heute nicht überall beliebt machen.

Die versierte Erzählerin macht Geschichte lebendig Foto: déja vu-Film

Für ihren Roman „Das verbotene Zimmer“ beschimpfte ein SED-Funktionär sie als „Analphabetin“, woraufhin sie das Buch in der BRD veröffentlichen ließ, wo sie dafür prompt den Hans-Fallada-Preis bekam. Den durfte sie dann selbstverständlich nicht annehmen. Schubert erzählt von all dem mit der Hellsicht des historischen Abstands und in einem abgeklärt sachlichen Tonfall, der die Absurdität des Lebens in der DDR nur umso deutlicher macht. Damals formulierte sie schärfer, wenn sie etwa von der „Umklammerung der Gartenzwerge“ sprach. Jörg Herrmann schaut mit einem zärtlichen Blick auf diese gescheite, warmherzige und immer noch energiegeladene Frau. Und es gelingt ihm, gerade weil er sich ganz auf sie konzentriert, nebenbei auch eine gesamtdeutsche Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erzählen.

Zugleich ist dies ein Film, der Mut macht: Denn Helga Schubert führt trotz aller Widerstände ein geglücktes Leben. Und in diesem Sinne ist sie tatsächlich ein „Sonntagskind“.

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