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Avantgarde-Festival auf MadeiraWanderung in zerklüftetem Terrain

Das Festival „MadeiraDig“ hat die portugiesische Atlantikinsel zum großen Labor für experimentelle Musik gemacht. Ein Augenschein.

Oh, wie schön ist Madeira. Und aufregend klingt es auch Foto: Roland Owsnitzki

Der Spaziergang nach Ankunft ist ein Ritual. Er führt von der Kleinstadt Ponta do Sol entlang der Steilküste zu einem Wasserfall, der auf die Straße pladdert. Bis vor Kurzem eine verschlafene Ecke, die Einheimische allenfalls zur Gratisautowäsche ansteuerten, ist der Cascata dos Anjos nun Hotspot für Influencer. Gleich drei Leute stehen für ihren Social-Media-Auftritt Schlange.

Madeira war lange Zeit ein Renter-Winterexil, aber zieht nicht erst seit der Covidpandemie eine junge Crowd an. Und das beschauliche Ponta do Sol wurde, als Corona den Tourismus lahmlegte, zum Pilotprojekt: dem ersten Digital Nomad Village. Menschen, die ihre Arbeit am Laptop erledigen, sollten sich hier längerfristig niederlassen. Sie bekommen Arbeitsplätze mit schnellem Internet gestellt. Und auch sonst Unterstützung: beim Knüpfen von Kontakten etwa.

Tröstlich, dass es in dem Küstenort wenigstens für Madeira-Fans mit Affinität zu seltsamer Musik eine Kontinuität gibt: Das alljährlich stattfindende Festival „MadeiraDig“ ist über die Jahre zum sozialen Raum geworden, dem etwas Utopisches anhaftet. Um ein Wochenende im Dezember kommen Einheimische und Touristen zusammen, für experimentelle Sounds und mehr.

Benannt nach Autor von Bewusstseinsstrom-Roman

Die eigenwillige Atmos­phä­re zeigt schon der Eröffnungsabend im Kulturzentrum John Dos Passos – benannt nach dem modernistischen Schriftsteller, der mit dem Bewusstseinsstrom-Roman „Manhattan Transfer“ (1925) weltberühmt wurde. Sein Großvater war von dieser portugiesischen Insel vor der Küste Marokkos in die USA ausgewandert.

Wie ein Bewusstseinsstrom wirkt auch das Album „Sky-Wide, Fading“, das Aires und Canadian Rifles im kleinen Kulturzentrum vorstellen – soghafte Klänge lösen die Grenze zwischen analog und digital auf. Das Duo stammt ursprünglich von der Insel, ebenso wie die Klangquellen seiner Ambient-Drones, in deren knisternde Rauheit man sich gern fallen lässt.

Mittlerweile leben die beiden Künstler in Porto – wie viele Kulturschaffende aus Madeira. In der Kneipengasse wird im Anschluss palavert. Auch das ist MadeiraDig: Menschen tauschen sich über Musik aus, von der sie kurz zuvor noch nichts wussten.

Assoziationsreiche Loops

In den nächsten Tagen gibt es viel zu besprechen: Etwa den Auftritt des New Yorker Gitarristen Alan Licht; in der Minimal Music ist er ebenso zu Hause wie im Rock. Er spielt ein assoziationsreiches Solokonzert, mit Loops und Wiederholungen. Manche haben das Gefühl, ihm beim Üben zuzugucken. Mich und viele andere holt er mit seinen Schleifen durchaus ab. Das Set ist viel zu schnell vorbei.

Recht einig ist man sich über die Londonerin Beatrice Dillon, die House und Bassmusik toll dekonstruiert. Beats bringt sie mit Neuer Musik zusammen – was den Kopf anknipst und dennoch in die Beine fährt: ein Highlight. Eher dröge und unfokussiert mutet dagegen die Performance von Hannan Jones und Shamica Ruddock an.

Das Spoken-Word-Sample zum Auftakt deutet an, dass es um Gewichtiges geht, „fiction“ und „history“ etwa. Doch das basswummernde Fundament, in dem sie immer wieder plingelige Sounds setzen, wirkt recht unmotiviert. Obwohl ihre Sound Art recht noisig daherkommt, schläft am Ende so man­che:r im Publikum.

Winterflucht-Community

Viele der gut Hundert angereisten Gäste entfliehen dem nordeuropäischen Winter – und kommen immer wieder. Über die Jahre ist durch diese Kontinuität eine Community entstanden. Tagsüber erkunden die Gäste und Künst­le­r:in­nen die wilde Inselnatur: Auch eine Tageswanderung ist Teil der Festivaldramaturgie.

Wie auf Klassenfahrt fühlt man sich auch, wenn es allabendlich mit dem Bus ins benachbarte Calheta geht: Im Auditorium des Kunstmuseums Casa das Mudas finden das Gros der Konzerte statt. Zurück im Hotel wartet die After­showparty mit zugänglicheren Elektroniksounds – was Einheimische wochenends in eine Sause verwandeln.

Dass all das stimmig zusammenkommt, hat wohl auch damit zu tun, wie organisch das Festival gewachsen ist. Erstmals fand MadeiraDig 2004 in Funchal statt, konzipiert als einmaliges Event. Die Agentur zur Kulturförderung auf den Atlantik­inseln (APCA) – neben Madeira gehören dazu die Azoren, Kapverden und Kanaren – war beauftragt, seinerzeit neue digitale Informationstechnologien vorzustellen. Viel Zuspruch, vor allem für das musikalische Programm, führte dazu, dass Kurator Rafael Biscoito eine zweite Ausgabe an den Start brachte.

Auf einen Felsen gebaut

Daraus sind inzwischen fast 20 Festivalausgaben geworden, obwohl es nach den ersten zwei Jahren mit der Förderung zunächst vorbei war. 2007 fand man neue Partner: ein Kunstmuseum und das Estalagem da Ponta do Sol, ein schickes, auf einen Felsen gebautes Hotel. Und zog auf der Insel um. So kam dann auch Biscoitos Co-Kurator Michael Rosen und sein Veranstaltungsportal Digital in Berlin ins Spiel.

Im Brotberuf kümmerte der deutsche Veranstalter sich damals um die IT des Portals Design Hotels, zu dem auch das Estalagem gehört. Rosen besuchte das Festival und sah das Potenzial. Biscoito und seinen Mitstreitern wiederum war klar, dass sie Input und Gäste von außen brauchen. Gerade mal 250.000 Menschen leben dauerhaft auf der Insel – eine mehrtägige Veranstaltung für experimentelle Musik tragen sie kaum.

„Uns war jedoch wichtig, eine solche Veranstaltung zu haben“, erklärt Biscoito. Rosen beschreibt ihn als den Menschen „mit dem seltsamsten Musikgeschmack auf der Insel“. Biscoito nennt Musik seine Droge. Nachjagen musste er ihr von jeher. Schließlich bot Madeira in der Jugend des Mittfünfzigers kaum Futter für obskure Interessen: Fanzines organisierte er sich per International Money Order, Musik kaufte er direkt von den Labels.

Konferenz am Freitag

Der extrovertierte Rosen ist zum Gesicht des Festivals geworden, der scheue, exakte Biscoito bleibt lieber im Hintergrund. „Ab März planen wir immer die nächste Ausgabe. Jeden Freitag konferieren wir. Und buchen nur, wen wir beide interessant finden“, erklärt Rosen. Am Ende steht ein eklektisches Programm, das davon profitiert, dass Rosen längst auch in Berlin Konzerte veranstaltet: etwa die nomadische Avantgarde-meets-Pop-Reihe „Kiezsalon“.

Sei einigen Jahren wird MadeiraDig vom portugiesischen Staat bezuschusst – was etwa die Abende im Kulturzentrum mit freiem Eintritt ermöglicht. Auch die anderen Konzerte sind moderat bepreist. Meist kommen 150 bis 200 Gäste. Etwa ein Drittel davon, so schätzt Bis­coi­to, sind Einheimische. Weiter wachsen wolle man nicht. Man müsste, um ein solches Nischenfestival zu erleben, sonst in eine Großstadt fahren. Und die liegt etwa 1.000 Kilometer entfernt – auf dem portugiesischen Festland. Den Begriff Avantgarde mag er nicht, erklärt Biscoito.

Lieber nennt er sein Programm „exploratory music“. Zum Erforschen gehört auch, dass mal etwas aus dem Festivalkonzept nicht aufgeht. Etwa der erste Teil des Abends der Creative-Jazz-Sängerin Sofia Jernberg und der australischen Cellistin Judith Hamann – auch wenn höchst eindrucksvoll ist, was die Schwedin kann: Neben einem kristallklaren Sopran produzieren Jernbergs Stimmbänder auch gutturales Brummen und animalische Laute.

Sperriger Pingpong

Doch bei ihrem Auftritt scheint sie vor allem Skills zu demonstrieren, es fehlt ein Zusammenhang. Erst später, mit Hamann, entsteht in dialogischer Improvisation eine Dramaturgie: Aus dem zunächst sperrigen Pingpong nähert man sich harmonisch an. Leila Bordreuil misshandelt und streichelt ihr Cello am nächsten Abend auf eine Weise, die man tatsächlich explorativ nennen muss. Ihr Instrument wirbelt sie umher, erzeugt noisiges Feedback und lässt Münder offen stehen.

Von dem Austausch, den die Atmosphäre des MadeiraDig-Festivals kennzeichnet, einem Dialog zwischen Menschen und Traditionslinien, bleibt mittlerweile auch etwas zurück, auch wenn alle Festivalgäste wieder abgereist sind. Seit 2021 finden in der Inselhauptstadt Funchal „Madeirag City Sessions“ statt, demnächst auch in eigenen Räumen, kuratiert vom Label-Kollektiv Casa Amarela aus Lissabon.

Die nächste Generation muss ran, findet Biscioto. Und so ambivalent, wie der aktuelle Madeira-Boom für Einheimische ist: Dass junge Leute von überall her das kulturell etwas müde Funchal beleben, sei ja durchaus „gesund“.

Transparenzhinweis: Das Festival hat einen Teil der Übernachtungskosten ­übernommen.

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