Bürgerbeteiligung in der Klimakrise: „Emotionen müssen gefühlt werden“

Ist echte Bürgerbeteiligung in der Klimakrise nicht zu langsam? Jascha Rohr und Claudine Nierth erklären, warum sie glauben, dass es nur mit ihr geht.

Menschen von oben stehen auf einer helen Fläche in Pfeilform gruppiert

Sind demokratische Prozesse wirklich zu langsam um wichtige Veränderungen anzustoßen? Illustration: Illustration: Boris SV/getty images

wochentaz: Frau Nierth, Herr Rohr, Sie kommen beide aus der Bürgerbeteiligung. Ihre Organisationen sind vom Bundestag damit beauftragt worden, einen Bürgerrat zum Thema „Ernährung im Wandel“ durchzuführen. Solche Prozesse kosten viel Zeit, erst nach Monaten liegen Ergebnisse vor. Haben wir diese Zeit noch in der eskalierenden Klimakrise?

Claudine Nierth: Schon seit 40 Jahren wissen wir von der Klimakrise, und das wenige Positive, das passiert, ist oft auf Bürgerdruck zurückzuführen. Beteiligungsformate sind viel schneller als etwa die Gesetz­gebung im Bundestag.

ist Vorständin von Mehr Demokratie e. V. Mit Roman Huber schrieb sie „Die zerrissene Gesellschaft. So überwinden wir gesellschaftliche Spaltung im neuen Krisenzeitalter“.

Haben Sie dafür Belege?

Nierth: Für unseren Bürgerbegehrensbericht haben wir Auswertungen über viele Jahre gemacht. Demnach haben direktdemokratische Verfahren in den letzten 10 Jahren mehrheitlich zur Beschleunigung von Klimaschutz geführt. Besonders Bürgerbegehren und Bürgerräte.

Bundesweit gab es seit 2019 sieben Bürgerräte zu unterschiedlichen Themen. 2021 auch zum Thema Klima. Wie funktionieren sie?

Nierth: Man muss sie sich vorstellen wie Mini-Republiken. Sie stellen einen Querschnitt der Bevölkerung dar, weil die Beteiligten nach Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildungsgrad repräsentativ ausgelost wurden. Beim Bürgerrat Ernährung kam noch das Kriterium Ernährungsweise hinzu: vegan, vegetarisch oder fleisch­essend. Bürgerräte müssen keine Rücksicht auf Fraktionszwänge nehmen. Die Menschen reden miteinander und nicht gegeneinander, weil sie anders als die Parteien nicht in Konkurrenz zueinander stehen. Das macht den Fokus auf Lösungen viel einfacher. Das gilt übrigens auch im Kommunalen. Wir haben im Rahmen eines Projektes auch 10 Kommunen mit Bürgerräten und Bürgerbeteiligung begleitet.

ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Partizipatives Gestalten in Oldenburg und Berlin. Sein jüngstes Buch heißt: „Die große Kokreation. Eine Werkstatt für alle, die nicht mehr untergehen wollen“.

Jascha Rohr: Gerade beim Thema Klima wird Bürgerbeteiligung mit Sicherheit noch exponentiell zunehmen.

Wie kommen Sie darauf?

Rohr: Weil Klimawandel gar nicht ohne Beteiligung geht. Wir brauchen positive gesellschaftliche Kipppunkte, an denen sich Veränderung beschleunigt. Diese Entwicklung nenne ich „Große Kokreation“.

So heißt auch Ihr Buch. Was ist das?

Rohr: Eine Phase, in der wir aktiv miteinander die ökosoziale Transformation gestalten. Wir diskutieren dann nicht mehr über das Ob, Warum oder Wann, sondern das Wie.

Klingt schön, aber weit weg.

Wir haben schon begonnen: Positive Kipppunkte erleben wir gerade zum Beispiel schon bei der Elektromobilität. Die wurde lange blockiert und verlacht, jetzt wird es erfolgversprechender, im neuen System mitzuspielen als im alten. Das führt zu einer exponentiellen Annahme des Neuen. Letztlich muss dieses Neue eine Gesellschaft und Wirtschaft innerhalb planetarer Grenzen sein.

Leider sind wir aktuell noch nicht in der Großen Kokreation, sondern eher im großen Chaos. Claudine Nierth, Ihr Buch heißt „Die zerrissene Gesellschaft“. Was ist hier zerrissen?

Nierth: Unser Gemeinschaftsgefüge ist zerrissen, weil wir gerne andere zu Anderen machen und sie abwerten. Frauen werden als weniger wert definiert, Menschen mit anderer Religion, queere Menschen und so weiter. Dieses Othering zerreißt Verbindungen zwischen Menschen. Sogar so weit, dass wir auch die Demokratie mit ihnen nicht mehr teilen wollen. Laut Umfragen hat nur noch jeder Zweite in Deutschland Vertrauen in die Demokratie. Das ist ein Misstrauensvotum an die anderen. Dazu kommen Effekte wie der Bestätigungsfehler.

… Die Psychologie beschreibt als Bestätigungsfehler, wenn wir aus Informationen vor allem das herauslesen, was die eigene politische Überzeugung und die eigene Gruppe bestätigt.

Nierth: Ja, je intelligenter die Menschen sind, desto mehr neigen sie sogar dazu. Für eine US-Studie wurden einer Gruppe zwei gleiche Rechenaufgaben vorgelegt. Bei der ersten ging es um eine Hautcreme, bei der zweiten um Waffenbesitz, also ein hoch­emotionales politisches Thema. Je besser die Teilnehmenden in Mathe waren, desto mehr verrechneten sie sich bei der zweiten Aufgabe zugunsten ihrer eigenen politischen Überzeugung. Überzeugungen schlagen Fakten und Vernunft k. o. Und wir merken es nicht mal.

Was hat das mit der Klimakrise zu tun?

Nierth: Der Klimaaktivist Sven Hillenkamp sagt sinngemäß, dass die erste Grundannahme politischer Praxis lauten sollte: Jedes Lager liegt in wesentlichen Punkten falsch. Wir nehmen Nachrichten sehr selektiv wahr und sortieren sie nach unserer Grundüberzeugung. Und wir ändern unsere Meinung nur sehr ungern. Wir schaffen es nur, wenn uns ein Gegenüber überzeugt, von dem wir viel halten. Deswegen sind gerade in Diskussionen um die Klimakrise die Gespräche mit Menschen um uns herum so wichtig, zu denen wir ein Vertrauensverhältnis haben, die aber anders denken.

Frau Nierth, Sie wünschen sich in Ihrem Buch eine „Demokratie der Zuneigung“. Welchen Platz haben Gefühle in der Politik?

Nierth: Ich finde, wir brauchen eine mitfühlende Demokratie und eine mitfühlende Regierung. Die Krux ist doch, dass Emotionen mit sachlichen Argumenten bearbeitet werden. Das funktioniert aber nicht. Emotionen müssen gefühlt werden. Dann ist auch Platz für Argumente. Als Verein Mehr Demokratie sprechen wir ständig mit der Politik. Und hinter verschlossenen Türen hören wir von Verzweiflung und Überforderung. Aber das wird nie öffentlich gesagt. Umgekehrt habe ich gerade wochenlang auf schleswig-holsteinischen Straßen Unterschriften für eine Initiative gesammelt und die Verzweiflung und Überforderung der Menschen gehört. So kommt aber keine Seite zur anderen.

Rohr: Ich stelle mir die Frage, wie wir unser gesellschaftliches Nervensystem regulieren können, damit mehr Sicherheit und Zuversicht entsteht. Derzeit scheinen Politik und Gesellschaft in einem Modus zu sein, in dem wir entweder komplett dichtmachen oder überreagieren und auf Angriff schalten. Für eine Demokratie ist das gefährlich.

Frau Nierth, Sie sagen, die Grundlage der mitfühlenden Demokratie sei es, andere mit ihren Gefühlen zu respektieren. Bleiben Sie dabei, wenn Sie einem aggressiven AfD-Fan gegenüberstehen?

Nierth: Moment, Kontakt heißt nicht Zustimmung! Sich voneinander abzuwenden ist keine Lösung. Demokratie der Zuneigung heißt vor allem: dableiben, wenn es eng und schwierig wird. Und ein Interesse dafür entwickeln, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Der Erfolg von Rechtspopulisten basiert gerade auf Ängsten. Diese müssen bewusst miteinbezogen werden, wenn wir sie überwinden wollen. Nach unseren Erfahrungen tritt in gelosten Bürgerräten politische Herkunft in den Hintergrund. Die Menschen reden miteinander. Am Ende steht das gemeinsame Ergebnis. Diese Qualität wünsche ich mir auch im Bundestag.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Was könnte das heißen?

Nierth: Wie sähen Diskussionen ohne Fraktionszwang aus, in denen 736 Abgeordnete in Gruppen zusammenarbeiten und etwa Eckpunkte für Gesetze festlegen? Ich hätte Lust, das als Verfahren mal zu testen und zu evaluieren.

Es gibt die These, die deutsche Bevölkerung zeige vor lauter ­Krisen Überforderungssymptome ähnlich einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Millionen fühlen sich erschöpft. Was kann man dagegen tun?

Nierth: Sichere Räume schaffen. Wir können davon ausgehen, dass die aktuellen Krisen auch vererbte Traumata unserer Eltern und Großeltern reaktivieren, das führt dann zu einer kollektiv gestressten und wenig belastbaren Gesellschaft.

Brauchen wir also eine Gruppentherapie?

Nierth: In gewissem Sinne ja. Wir haben 2022 einen Forschungsprozess zu Trauma und Demokratie mit 350 Menschen durchgeführt. Wir wollten herausbekommen, was es bewirkt, wenn Menschen kollektive Traumata mit einer großen Gruppe thematisieren. Die Teilnehmenden haben ihre Geschichten geteilt, die anderen zugehört. Solche Prozesse stärken das Gefühl, zusammenzugehören, und wirken der Polarisierung entgegen. Innerlich stabil zu sein ist keine private Aufgabe, sondern eine politische.

Rohr: Es gibt viele internationale Ansätze, mit gesellschaftlichen Traumata zu arbeiten. So gab es nach dem Attentat des Rechtsradikalen Breivik in Norwegen einen großen gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozess. In Guatemala wurde 20 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs ein umfassendes Versöhnungsprogramm durchgeführt. Ich sehe unsere Aufgabe jetzt darin, solche Arbeit an Spaltungen mit Zukunftsaufgaben zusammenzubringen.

Laut Ihrem Buch, Frau Nierth, gab es um 1900 in Skandinavien die Möglichkeit, für drei bis sechs Monate eine Auszeit in einem Retreat-Center zu nehmen.

Nierth: Ja, das ist eine unglaubliche, wenig bekannte Geschichte. In Schweden, Norwegen und Dänemark herrschte damals eine autoritäre bäuerliche Struktur. Bis zu 10 Prozent der Menschen nutzten dieses Angebot, bildeten sich gemeinsam über humanistische Klassiker wie Goethe und Humboldt weiter. Sie fanden neue Orientierung. Die Demokratie etablierte sich. Das war vielleicht entscheidend, dass diese Länder heute zu den glücklichsten der Welt gehören. Diese ­Institutionen existieren immer noch, wurden aber nach dem Zweiten Weltkrieg zu einfachen Volkshochschulen eingedampft.

Aus den geballten Krisen der Gegen­wart hinaus: Blicken Sie optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft?

Nierth: Ich bin optimistisch. Krisen entstehen dann, wenn ein nächster Entwicklungsschritt ansteht, er aber nicht vollzogen wird.

Das klingt, als würden Sie Krisen gutheißen.

Nierth: Nein, Krisen künden nur etwas an. Aber je mehr man an etwas Altem festhalten will, desto stärker drückt die Evolution, also die nötige Veränderung, dagegen. Das merken wir jetzt an der Klimakrise. Aber das kennen wir auch aus dem eigenen Leben.

Rohr: Ich bin kurzfristig pessimistisch und langfristig optimistisch. Ich glaube, dass nach dieser Phase multipler Krisen eine neue Phase der globalen Zusammenarbeit in ganz neuer Form kommt. Partizipative Formate sind eine Vorbereitung darauf. Ich glaube sogar, dass wir uns auf diese Zeit freuen dürfen.

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