Kriegsversehrte in der Ukraine: Vom Feld aufs Feld

Sie wurden im Krieg schwer verwundet und haben ein Bein verloren, nun spielen sie Fußball. Beim ukrainischen FC Pokrowa geht es um mehr als Sport.

Fußballspieler mit amputierten Beinen beim Training

Ein Fußballverein für Kriegsversehrte: Spieler des FC Pokrowa in Lwiw beim Training Foto: Roman Baluk

LWIW taz | Bohdan Melnyk fährt jeden Dienstag und jeden Samstag früh am Tag durch Lwiw. Mit einem Kleinbus sammelt der Trainer des FC Pokrowa seine Spieler ein. Seit Monaten macht er das schon. Er steuert diverse Rehabilitationseinrichtungen an, um seine Spieler zum Training abzuholen – verwundete Soldaten mit amputierten Gliedmaßen. Für die Veteranen, die ein Bein verloren haben, gehört der Fußball zum Reha­programm. Ziel der Busfahrt ist ein Fußballplatz auf dem Gelände der Salesianerpatres des griechisch-katholischen Don-Bosco-Zentrums. Auch der Name des Klubs zeugt von der christlichen Trägerschaft. Pokrowa ist ein Marienfeiertag in der Ukraine.

Es regnet in Strömen in Lwiw, bisweilen gehen die Niederschläge über in nassen Schneefall oder Schneeregen. Auf die Frage, ob er das Training wegen des schlechten Wetters nicht lieber absagen wolle, antwortet Bohdan Melnyk: „Gespielt wird bei jedem Wetter. Die Jungs haben ja auch nicht nur gekämpft, wenn es schön warm war.“ In der Umkleidekabine legen die jungen Männer ihre Prothesen ab und machen sich auf Krücken auf den Weg zum Fußballplatz. Alles ist so, wie es eben ist, wenn Fußball gespielt wird: das Netz mit Bällen, die Trainingsausrüstung, die Witze, eine Ther­mos­kanne mit Tee und erste Aufwärmübungen.

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An diesem Tag ist ein besonderer Gast zum Training gekommen: Juri ­Suschtsch, der Kapitän der ukrainischen Nationalmannschaft der Beinamputierten. Zusammen mit seinem Bruder ist er über 300 Kilometer mit dem Auto angereist, nur um zwei Stunden mit dem Team des FC Pokrowa zu trainieren.

Suschtsch hat die ukrainische Nationalmannschaft im Oktober zur Qualifikation für die EM im kommenden Jahr geführt. Ihm ist es ein großes Anliegen, die auf dem Platz versammelten Soldaten bei ihren ersten Schritten im Fußball zu unterstützen. Auf dem Spielfeld fällt sofort auf, was er kann: Er zieht mit seinen Krücken Spurts an, schießt hart und präzise aufs Tor. Dann fordert er die anderen auf, es ihm gleichzutun.

Traumata überwinden

„Sport ist die beste Rehamaßnahme, physisch und psychologisch. Danach werden sich die Jungs im Leben austoben wollen“, sagt Trainer Melnyk, bevor das Training richtig losgeht. Seine Schützlinge haben bereits gelernt, wie man die Krücken auf dem Platz richtig einsetzt, um sich auch bei einem Zweikampf aufrecht zu halten. Dabei soll nicht das gesunde Bein die Hauptlast tragen. Wenn man auf Krücken laufe, würde auch die Rückenmuskulatur stark beansprucht – die Arme sowieso.

Auch aus diesem Grund sei Sport für verwundete Soldaten, die ein Bein verloren haben, mehr als eine Freizeitbeschäftigung. Sport könne dabei helfen, die körperliche Fitness wiederherzustellen und psychische Traumata zu überwinden. Einer der Fußballer sagt: „Nach der Zeit in der Armee, nach dem Krieg ist nichts mehr wirklich schwer in unserem Leben.“

Am Rand des Trainingsplatzes gibt es Gelegenheit, die Spieler kennenzulernen. Walentyn Osowsky etwa. Er stammt aus Lwiw. Vor dem Krieg spielte er als Amateur Fußball in einem Klub. Bei schweren Gefechten um die Kleinstadt Kreminna in der Region Luhansk hat er sein Bein verloren. Als man ihm angeboten hat, aufs Spielfeld zurückzukehren, habe er sich einfach nur gefreut. „Einige von uns haben sportliche Ambitionen“, sagt er. „Andere wollen einfach nur Kontakte knüpfen. Und uns allen geht es um eine gute körperliche Fitness.“

Und das Fußballspielen auf Krücken? „Im Spiel selbst werden wir immer wieder an unsere Verwundung erinnert – jedes Mal, wenn ein Ball unter den falschen Bein durchgeht. Daran müssen wir arbeiten“, sagt Osowsky.

Aufwachen im Krankenhaus

Neben ihm steht Iwan Terlezki. Er stammt aus Kolomyia bei Iwano-Frankiwsk in der Westukraine. Er war bei den Gebirgsjägern der Brigade „Edelweiß“, die wegen ihrer Erfolge von Präsident Wolodimir Selenski diesen durchaus umstrittenen Ehrennamen erhalten hat. Während eines Angriffs wurde er durch eine Landmine verwundet. Als er im Krankenhaus von Dnipro aufwachte, fehlte ihm ein Bein. Zurzeit lebt er in einer Reha-Einrichtung in der Nähe von Lwiw. Dort lernt er, mit seiner neuen Prothese zu gehen. Erst vor kurzem hat er mit dem Fußballspielen angefangen.

Die Trainingseinheit beginnt. Auf die Aufwärmübungen folgt Torschusstraining. Den Gesichtern der Spieler ist anzusehen, dass Fußball für sie mehr als eine reine Rehabilitationsmaßnahme ist. Sie zeigen Emotionen, die so wichtig sind gerade für Soldaten, die aus dem Krieg zurückgekehrt sind. Auf einem Bein absolvieren sie die komplizierten Übungen.

Trainer Melnyk hat es geschafft, 14 beinamputierte Spieler für seine Mannschaft zu gewinnen. Sie wollen bei der ukrainischen Meisterschaft der beinamputierten Spieler mitmachen. Im Ausland zu spielen, ja, das wäre etwas. Doch das ist schwierig. Auch ehemalige Militärangehörige dürfen die Ukraine meist nicht verlassen.

Doch es geht nicht allein um Sport. Bohdan Melnyk erklärt, wie wichtig es ist, die Verwundeten zu ermutigen, für sich selbst mit dem Training zu beginnen. Ihr Beispiel könne andere motivieren, aus den Mauern der Krankenhäuser auszubrechen und ein weitgehend normales Leben zu führen – wenn auch mit einer schweren Verletzung.

Auch Konstantin Kaschula gehört zu seiner Mannschaft. Er stammt aus Transkarpatien im äußersten Westen der Ukraine. Gedient hat er in der 5. separaten Angriffsbrigade und ist an den am heftigsten umkämpften Orten des Krieges gegen die russischen Okkupanten eingesetzt worden. Im Februar wurde er in der Nähe von Bachmut von einem Schrapnell getroffen und verlor ein Bein.

Jetzt ist Kaschula Kapitän des FC Pokrowa und hat es auch schon in die ukrainische Nationalmannschaft geschafft. Er ist Melnyks wichtigster Helfer, wenn es darum geht, beinamputierte Soldaten an den Fußball heranzuführen. Kostja, wie er genannt wird, ist im Training omnipräsent. Er strotzt nur so vor Energie und Optimismus, hat immer einen Scherz auf den Lippen.

„Ich möchte, dass noch mehr Jungs mitmachen“, sagt er, „denn ein Bein zu verlieren, bedeutet nicht, das Leben zu verlieren. Man kann mit einer Prothese leben und auch nach einer Amputation weiter Sport treiben.“ Sein Traum ist es, mit der ukrainischen Nationalmannschaft an den Invictus Games teilzunehmen. Die Sportspiele für Soldaten, die im Einsatz verwundet worden sind, finden 2024 in Las Vegas statt.

Endlich ist das Aufwärmen vorbei, und die Spieler werden in zwei Teams aufgeteilt. Ein wenig abseits des Spielfelds steht ein Mann in der Uniform der Armee. Es ist Marjan Tratsch. Die Ärzte haben ihm vom Spielen abgeraten. Sein Bein schmerzt an der Amputationsstelle. Trainer Melnyk schnappt sich seine Krücken und müht sich damit über den Platz. Man solle gefälligst nicht über ihn lachen, scherzt er.

Lernen, den Ball zu stoppen

Tratsch erklärt derweil, dass Schmerzen am Stumpf ein häufiges Problem sind. „Mit der Zeit sammelt sich Flüssigkeit an, die Nervenzellen wachsen nach.“ Warum er an diesem Tag trotzdem gekommen ist? „Ich konnte einfach nicht im Krankenhaus bleiben. Ich möchte beim Training dabei sein. Wenn ich nicht spielen kann, dann feuere ich die Jungs eben an.“

Vor dem Krieg spielte er für den ­Dorfklub in dem Ort, aus dem er stammt. Er war einer der ersten Spieler des FC Pokrowa. Vor der Verletzung war Marjan Tratsch Rechtsfuß. Den hat er verloren. Jetzt muss er mit dem linken Bein zurechtkommen. „In den ersten Trainingseinheiten haben wir ­eigentlich nur gelernt, den Ball mit dem falschen Fuß zu stoppen.“ Es sei schwer, sich psychologisch darauf ­einzustellen.

Das Trainingsspiel läuft. Schnell werden die Regeln klar. Das Schlagen des Balls mit der Krücke ist nicht erlaubt. Es wird geahndet wie das Handspiel beim Fußball der Menschen ohne Beeinträchtigung. Es wird gedribbelt, schnelle Pässe werden geschlagen, es wird gepresst. Oft werden lange Pässe geschlagen – so kommt der Ball schneller vors Tor.

Die Emotionen kochen hoch auf dem Spielfeld. Schließlich gelingt einer Mannschaft ein Tor. Es wird gejubelt, indem die Spieler ihre Krücken aneinander schlagen. So ist es Sitte beim Fußball der Beinamputierten. Nach dem Schlusspfiff reckt einer die Arme mit den Krücken in die Höhe. Andere stützen sich vor Müdigkeit auf.

Es regnet immer noch in Strömen, das Spielfeld wird vom Flutlicht beleuchtet. Die Spieler versammeln sich zum Energiekreis. „Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden!“, schallt es übers Feld. Trainer Melnyk bedankt sich für das gute Spiel, und Ehrengast Suschtsch fordert alle auf, eine Karriere als Nationalspieler anzustreben.S A

Aus dem Russischen: Andreas ­Rüttenauer

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