Ukrainische Ostfront: Granaten und geöffnete Geschäfte
Die Region um die Stadt Bachmut ist in den vergangenen Wochen hart umkämpft. Ein Besuch an der Front.
Noch zehn Autominuten bis Tschassiw Jar, eine Stadt mit knapp 13.000 Einwohnern im Gebiet Donezk im Osten der Ukraine. Teile der Straßen sind beschädigt von Minen, Artillerie und Kettenfahrzeugen. Das Auto, wie auch die Insassen, sind schon mit einer dichten Staubschicht bedeckt. Vorne weg fährt ein Militärtransporter. Wegen der staubigen Luft gilt es, sich nach Gefühl fortzubewegen, allerdings mit einer Geschwindigkeit von mehr als 100 Stundenkilometern, um nicht unter Beschuss zu geraten.
Von Tschassiw Jar oder „Tschassik“, wie die Menschen hier sagen, sind es nur knapp 9 Kilometer bis zu den Stellungen der russischen Armee und bis Bachmut, der Stadt, die in den vergangenen Wochen mit am heftigsten umkämpft war und von russischen Truppen zu großen Teilen zerstört wurde. In den vergangenen Tagen hat die Intensität der Kämpfe etwas abgenommen. Denn in der südlichen Region Saporischschja hat die ukrainische Gegenoffensive begonnen, weshalb die Russen einen Teil ihrer Truppen und Ausrüstung dorthin verlegt haben.
Offenbar haben auch Angriffseinheiten des privaten Militärunternehmens „Wagner“ Bachmut verlassen, an ihrer Stelle sind Einheiten der regulären Armee der Russischen Föderation vorgerückt, die allem Anschein nach schlechter vorbereitet und weniger motiviert sind. So ist alles wohl nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm. Genaues weiß niemand, die ukrainische Regierung hat den Generalstab der Streitkräfte angewiesen, Stillschweigen über die Gegenoffensive zu bewahren.
Sicherheitslage das größte Problem
Tschassik ist grau, überall sind beschädigte fünfstöckige Gebäude zu sehen. Ein Teil des Ortes hinter dem Wasserkanal sehe aus wie Bachmut und sei vollständig dem Erdboden gleichgemacht worden. Dorthin zu fahren, sei brandgefährlich sagen Soldaten.
Ständig ist Artilleriefeuer zu hören. Die Stadt ist fast menschenleer, doch einige Bewohner sind geblieben. Einer von ihnen ist Oleg. Der 54-Jährige ist Mitglied des örtlichen Stadtsrats und Inhaber des einzigen Ladens, der noch geöffnet hat. Er wurde durch Granatsplitter am Bein verletzt, will aber trotzdem hierbleiben.
Für ihn, wie für alle anderen auch, ist die Sicherheitslage das größte Problem. Da vertraue er niemandem. „Da sind das Land Ukraine und seine gelb-blaue Flagge. Etwas anderes sollte es nicht geben: weder Rot-Schwarz (Flagge der Ukrainischen Aufständischen Armee UPA, die von 1942 bis 1956 existierte. Sie symbolisiert das rote Blut der Ukrainer, das auf dem schwarzen Boden vergossen wurde; d. Red.) noch irgendwelche Russen, es gibt nur das Land Ukraine – und das war’s“, sagt er.
Von Tschassik nach Kostjantiniwka sind es 15 Kilometer. Obwohl auch dieser Ort zu den „Frontstädten“ gehört, wirkt er alles andere als ausgestorben. Auch hier ist ständig Geschützfeuer zu hören, Granaten fliegen in beide Richtungen. Dennoch sind alle Geschäfte geöffnet, sogar auf dem Markt herrscht reges Treiben. Der 72-jährige Anatoli erledigt gerade ein paar Besorgungen. Er spricht Ukrainisch und macht sich für einen Nato-Beitritt der Ukraine stark. „Der Nato beizutreten – ja, das wird uns eine Art Sicherheit geben, die westlichen Partner werden uns helfen. Aber wir müssen die Russen aus eigener Kraft vertreiben. Dann wird niemand mehr auf den Gedanken kommen, in die Ukraine einzudringen“, sagt er.
Das Wirken der russischen Propaganda
Er ist sich sicher, dass die Ukraine im Falle eines Nato-Beitritts ihren Teil zur Sicherheit der Nato und Europas beitragen könnte. Schließlich verfüge sein Land über reale Kriegserfahrungen und habe gut ausgebildete und motivierte Streitkräfte.
Doch so wie Anatoli denken nicht alle hier. Olga ist 49 Jahre alt und sagt, sie sei Politikwissenschaftlerin. Nach ihrer Meinung zu der aktuellen Lage befragt, betet sie sofort alle Klischees aus russischen Propaganda-TV-Shows nach, zum Beispiel, dass Russland in der Ukraine gegen die Nato kämpfe. Sollte die Ukraine der EU und der Nato beitreten, werde Kyjiw sofort mit dem Verkauf von Produkten mit gentechnisch veränderten Organismen beginnen und Nato-Bürokraten würden die Preise für die Wasserversorgung in Kostjantiniwka erhöhen. Ihre Argumente begründen kann sie nicht.
Die Stadt Druschkiwka, 20 Kilometer von der Frontlinie entfernt, zählt im Donbass bereits zum Hinterland. Die Stadt ist ständig Ziel von Angriffen. Erst am Wochenende zielten russische Raketen wieder auf die Infrastruktur. Dennoch scheint das Leben seinen „normalen“ Gang zu gehen. Viele Menschen sind unterwegs, selbst die Straßenbahn fährt.
Gemischte Meinungen zu NATO-Beitritt
Irina, eine 54-jährige Arbeiterin in einem Maschinenbauwerk, glaubt, dass ein Nato-Beitritt und die militärische Unterstützung des Westens den Krieg in der Ukraine beenden könnten. „Polen, die baltischen Staaten, Großbritannien und die USA, das sind diejenigen, die uns wirklich geholfen haben. Die Truppen des, ‚befreundeten‘ Landes müssen abzuziehen. Die Russen haben immer gesagt, sie seien unsere Freunde, unsere Brüder. Jetzt sehen wir, was für Brüder sie wirklich sind. Sein Land einfach herzugeben, kommt nicht infrage“, sagt sie.
Dem widerspricht Marina energisch. Die 51-Jährige arbeitet als Köchin in Druschkiwka. Die russische Armee wäre nicht in die Ukraine einmarschiert, wenn die westlichen Partner der Ukraine keine Waffen geliefert hätten. Kyjiw solle keinesfalls der Nato beitreten, sagt sie, räumt aber gleichzeitig ein, dass sich die Ukraine nicht alleine verteidigen könne. Alles in allem, so sagt sie zum Abschluss, verstünde sie nichts von Politik.
Genau das macht sich Russland mit seinem Informationskrieg zunutze. Der dürfte noch lange dauern – selbst dann, wenn die ukrainischen Truppen in naher Zukunft im Donbass militärische Erfolge erzielen werden.
Aus dem Russischen Barbara Oertel