Presserat zur Aiwanger-Berichterstattung: Keine Unschuld vom Lande
Die Berichterstattung der „SZ“ über die antisemitische Flugblattaffäre des bayrischen Ministers Hubert Aiwanger war zulässig. Die Presse darf nicht kuschen.
R echerche zu Missständen gehört zu den Kernaufgaben des Journalismus. Doch in den letzten Jahren wehren sich Beschuldigte immer vehementer gegen Berichterstattung über ihre Leichen im Keller.
Einer von ihnen: Hubert Aiwanger. Der bayrische Wirtschaftsminister soll laut Recherchen der Süddeutschen Zeitung aus diesem Jahr als Teenager Flugblätter in seinem Rucksack herumgetragen haben, auf denen als „Preis“ für „Vaterlandsverräter“ (wer damit gemeint war, bleibt bis heute unklar) ein „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ ausgelost wurde.
Doch statt zu bereuen, berief sich Aiwanger in mafiöser Manier darauf, niemanden „verpfeifen“ zu wollen. Prompt bekannte sein Bruder, der Verfasser des Hassdokuments zu sein. Und Aiwanger ging zum Gegenangriff über: Die SZ habe es auf ihn abgesehen, wolle seine Wiederwahl gefährden. Die Berichterstattung sei mangelhaft, Aiwanger Opfer einer Kampagne. Das behaupteten in Windeseile auch konservative bis rechte Medien. Die NZZ tauschte gar die Rollen: Statt um tiefdeutschen Antisemitismus gehe es hier um Verfehlungen der SZ.
Nun hat der Deutsche Presserat Klarheit in die Sache gebracht: Er lehnt 18 Beschwerden zur Verdachtsberichterstattung der SZ als unbegründet ab. An der Vergangenheit eines führenden Politikers herrsche erhebliches öffentliches Interesse. Auch, dass der geschilderte Sachverhalt 35 Jahre zurückliege und Aiwanger noch (knapp) minderjährig war, werde durch die „gravierenden“ Vorwürfe kompensiert. Ziffer 8 des Pressekodexes, der den Persönlichkeitsschutz regelt, sei nicht verletzt worden. Auch die Salamitaktik des SZ-Rechercheteams, Details in nacheinander veröffentlichten Texten bekannt zu machen, habe nicht gegen die Sorgfaltspflicht nach Ziffer 2 verstoßen.
Keine Vorverurteilung
Der Presserat ist zwar kein Gericht, sondern ein Träger der Verlage zur freiwilligen Selbstkontrolle der Branche. Aber sein Urteil hat Gewicht. Die meisten Medien ändern ihre Berichterstattung und sprechen Entschuldigungen aus, wenn sie gerügt werden.
Aiwanger hatte auch behauptet, er werde im Gericht der öffentlichen Meinung vorverurteilt. Das sieht der Presserat anders: Die Vorwürfe seien als solche und nicht als Tatsachen gekennzeichnet gewesen. Außerdem habe Aiwanger die Gelegenheit bekommen, sich vorab gegenüber der SZ zu äußern. Das ist für korrekten Journalismus absolut zentral, geht aber immer wieder im moralischen Eifer unter. Die SZ hat in der Recherche sauber gearbeitet. (Auch wenn es stilistische Probleme gab.)
Wer sich unsauber verhalten hat ist Aiwanger selbst: Auf die Fragen der SZ reagierte er mit Klagedrohung. Seine Strategie ist wohlbekannt: DARVO: Deny, attack, reverse victim and offender, also leugnen, angreifen, Opfer und Täter umkehren. Die Strategie beschrieben Psychologinnen erstmals, um das Verhalten von pathologischen Narzissten und Sexualstraftätern zu beschreiben. Mittlerweile ist es Standard in der Krisenkommunikation. Es ist enorm wichtig, solche Strategien zu erkennen, um sie ins Leere laufen zu lassen – auch, um die Demokratie zu schützen.
Dass Aiwanger trotz der Offenbarung, dass er das Flugblatt mindestens mit sich herumtrug, trotz Zeugenaussagen, er habe den Hitlergruß gezeigt und judenfeindliche Witze gemacht, nicht zurückgetreten ist und bei den Landtagswahlen sogar noch belohnt wurde, ist eine Zäsur in der Bundesrepublik. Aiwanger hatte sogar die Frechheit, kürzlich über „importierten Antisemitismus“ zu schwafeln, wo er doch gerade das prominenteste Beispiel für den hier gezüchteten, noch immer schwelenden Antisemitismus ist.
Diese Projektion auf marginalisierte Gruppen ist ein Beispiel dafür, wie immer mehr aus dem Fokus gerät, wer Macht und Einfluss hat und wer nicht. Wessen Einstellung moralisch zu verurteilen und wessen wirklich gefährlich ist. Darum ist es so wichtig, dass der Presserat klarstellt: Aiwanger ist nicht das Opfer. Aiwanger hat Macht, bei ihm durfte und musste man besonders genau hinschauen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen