Jugend im Westjordanland: Träumen, trotz Krieg
Der Krieg in Gaza lässt auch die Konflikte im Westjordanland mit neuer Heftigkeit aufbrechen. Wie blickt die junge Generation dort in die Zukunft?
M üde blickend steht Jasmin Ismail* vor den Toren der Schule, zwischen den Säulen aus hellem Sandstein und den Bäumen des Gartens und versucht, eine Welle der Wut aufzuhalten, die sie nicht heraufbeschworen hat. Das Chaos, das außerhalb der Schulmauern herrscht, in geordnete Bahnen zu lenken. Ein Chaos, das seit über drei Wochen, seit die Hamas am 7. Oktober Israel angegriffen hat und Israel in Gaza zurückschlägt, wie eine massive Welle über den Nahen Osten rollt.
Seit fast einem Monat versucht Jasmin Ismail, die in Wahrheit anders heißt, Leiterin einer privaten Schule in Ramallah, dem Unberechenbaren standzuhalten, es ins Berechenbare zu verwandeln. Die Unsicherheit in geordnete Schichtpläne und Termine zu drücken: in Gesprächen mit den Eltern, mit Kolleg*innen, in Alternativen, in Plan B, Plan C und auch mal D. Ismail bittet darum, den Namen der Schule nicht zu nennen. Die Stimmung ist aufgeheizt, auch im Westjordanland.
Jetzt, in der Pause, laufen Teenager*innen in Schuluniform zwischen den Kiefern herum, lachen, plaudern, essen Manakish: Fladenbrot mit Olivenöl oder Käse. Kindergeschwätz hallt auf dem Hof wider. Ein alltäglicher Anblick, in einer Lage, die alles andere als alltäglich ist. „Kinder brauchen Strukturen, sie brauchen Routinen. Und wir versuchen, ihnen ein Gefühl von Normalität zu vermitteln – wenn eigentlich nichts normal ist“, sagt Ismail, westliche Kleidung und resignierter Blick. Doch ihre Aufgabe ist eine nahezu unmögliche.
Am 7. Oktober ist die Fassade der Normalität für viele Kinder im Westjordanland in sich zusammengestürzt. Eine Fassade, die bereits zuvor immer wieder Risse bekam.
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„Sehr viel hat sich verändert, seit Beginn des Konflikts“, erzählt die 17-jährige Lina*. „Es ist sehr schwer für uns, weiter zu lernen mit all dem, was um uns herum passiert. Es ist sehr stressig. Es ist immer diese Angst da, die Unwissenheit, was als Nächstes passieren könnte.“
Eigentlich gilt Ramallah als sicheres Gebiet, wenn es so etwas wie ein sicheres Gebiet im Nahostkonflikt gibt: 40.000 Einwohner*innen, Sitz der Palästinensischen Autonomiebehörde, die seit 1994 Teile des Westjordanlands verwaltet. Während im Gazastreifen die radikalislamistische Hamas herrscht, regiert hier die gemäßigte Partei Fatah unter Leitung des 87-jährigen Präsidenten Mahmud Abbas, der inzwischen mehr Ansehen im Ausland als zu Hause genießt.
Doch in den Wochen nach dem 7. Oktober sind laut palästinensischem Gesundheitsministerium mindestens 153 Menschen in der Westbank gestorben, meistens bei Konfrontationen mit israelischen Streitkräften und teilweise mit israelischen Siedler*innen. Mehr als 2.000 Menschen wurden verletzt. Unter den Toten befinden sich laut der Menschenrechtsorganisation Defense for Children International Palestine und dem Palästinenser-Hilfswerk UNRWA mindestens 44 Kinder. Die Zahlen decken sich mit denen des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen.
Seit dem Sechstagekrieg 1967 befindet sich die Westbank unter israelischer Besatzung. Auf dem 5.600 Quadratkilometer großen Gebiet sind bis heute 279 israelische Siedlungen entstanden, meistens zerstreut zwischen palästinensischen Städten wie Nablus, Ramallah oder Hebron. Israelische Streitkräfte bewachen die Siedlungen und dürfen Einsätze in palästinensischen Gebieten vollziehen, Checkpoints und Straßenblockaden errichten. Lediglich 18 Prozent des Westjordanlands stehen unter Hoheit palästinensischer Polizeibehörden.
Nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober hat Israel die Sicherheitsvorkehrungen im Westjordanland intensiviert, Straßen teilweise gesperrt und zunehmend Razzien in Flüchtlingslagern und Städten wie Dschenin durchgeführt, die als Hochburg militanter Palästinenser*innen gelten. Auch die Kontrollen an den Checkpoints seien jetzt länger und aggressiver, berichten Palästinenser*innen.
Für Schülerin Lina, deren Familie teilweise in Jerusalem lebt, ist es nicht immer leicht, Verwandte zu besuchen. „Ich habe ein ähnliches Problem“, schließt sich eine weitere Schülerin, Zayna*, an. „Meine Familie lebt in Nazareth, aber ich konnte sie wegen der Checkpoints und der Siedler, die aggressiver geworden sind, nicht mehr besuchen.“ Das Problem ist in der Wesbank eigentlich nicht neu. Nur, jetzt hätte sich die Lage zugespitzt, erklärt sie.
Die Zahlen geben ihrem Gefühl recht: Laut dem Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) gab es im Jahr 2023 bis zum 7. Oktober im Schnitt jeden Tag drei Zwischenfälle, bei denen Siedler involviert waren. In den Wochen danach stieg die Zahl auf sieben tägliche Vorfälle im Durchschnitt. Acht Palästinenser*innen sind bis Ende Oktober von Siedlern getötet worden.
Nicht nur auf die Schüler*innen wirkt sich die Lage aus: 21 Lehrkräfte wohnten nicht direkt in Ramallah und müssten pendeln, erzählt Schulleiterin Ismail. „Das ist sehr schwierig. Manchmal kommen sie gar nicht an und wir müssen sie kurzfristig ersetzen.“ Ismail sitzt nun an einem Schreibtisch, der mit einer weißen Papiertischdecke überzogen ist. Ihr Handy klingelt, sie habe jetzt einen Termin, wird sie erinnert. Jemand klopft an die Tür. Zeit für ein Interview hat sie eigentlich nicht, dennoch schafft sie sich Raum für das Gespräch.
Denn es sei wichtig, dass die Welt verstehe, was diese Lage für die Kinder bedeutet. Dass sie, Jasmin Ismail, jeden Tag aufs Neue planen müsse, oft früh am Morgen: ob es Präsenzunterricht geben wird, ob eine Klasse lieber in den Fernunterricht wechseln sollte. Ob es überhaupt Unterricht geben wird. Bislang hätten die Schüler*innen indes nur vier Tage Schule verpasst, sagt sie mit einem gewissen Stolz.
Doch es sind nicht nur die Checkpoints, die den Schulbetrieb erschweren. Weniger als ein Kilometer vom Schulgelände entfernt schreien seit Beginn des Konflikts jeden Tag Demonstrierende ihre Wut heraus, skandieren Kampfparolen, lassen ihren Zorn raus, auf Israel und auf die Welt. Am Tag vor unserem Treffen wurde in dem Stadtteil ein Jugendlicher von israelischen Streitkräften angeschossen. In den Nachrichten und in den sozialen Netzwerken laufen pausenlos Bilder der Zerstörung in Gaza. Manche Kinder, manche Lehrer*innen haben dort Familie. Einige haben Angehörige bei den Luftschlägen verloren: Kinder, Männer, Frauen, Neffen, Brüder, Nichten.
Zayna sagt: „Du lebst immer in einer Art Paranoia, was als Nächstes passieren wird. Es ist schwierig, sich aufs Lernen zu konzentrieren, wenn du andere Prioritäten hast.“ Darunter mischten sich auch Schuldgefühle: zu wissen, dass man in Sicherheit ist, das Privileg zu haben, eine gute Ausbildung zu genießen. „Ich fühle mich schuldig, wenn ich aufwache, wenn ich Wasser trinke“, sagt Zayna. An der Privatschule in Ramallah lernen die Kinder von eher wohlhabenden palästinensischen Familien aus dem Westjordanland, insgesamt sind es 1.600 Kinder und Jugendliche.
Die Kinder fühlten sich frustriert und bräuchten eine Anleitung, wie sie ihre Gefühle ausdrücken könnten, sagt Ismail. Die Angst vor dem Ungewissen bringt sie aus der Ruhe: „Lehrer*innen sind gestresst, Schüler*innen sind gestresst.“ Man rede mit ihnen über das Geschehen, man organisiere Projekte, in denen sie sich engagieren können, um sich weniger hilflos zu fühlen.
Zwar sind Kinder im Westjordanland nicht direkt vom Konflikt in Gaza betroffen. Indirekt sind sie es aber schon. Die Wut, die Polarisierung zwischen Palästinenser*innen und Israelis sind allgegenwärtig. Der Konflikt spiegelt sich dann in den Klassen wider, er beeinflusst die Arbeit der Erzieher*innen. Die sind ihrerseits seit Beginn des Konflikts täglich mit Hindernissen konfrontiert: Checkpoints, die Verspätungen verursachen, Streiks. Gleichzeitig müssen sie versuchen, die Schüler*innen so gut wie möglich durch das Schuljahr zu bringen. Denn viele Jugendliche wollen eine Zukunft haben. Sie träumen weiter, dem Konflikt zum Trotz.
Einige möchten im Ausland studieren: Recht, Medizin, Psychologie. An der privaten Schule absolvieren die Schüler*innen das Internationale-Baccalaureat-Programm, das sie auf die Universität vorbereitet und mit einer Prüfung endet. Die Prüfung könne nicht verschoben werden, die Fristen stünden schon fest, erzählen sie. Doch Kriege nehmen keine Rücksicht auf Fristen. Und auch der Gedanke, weit weg zu sein, während der Krieg noch andauert, erfüllt die Jugendlichen mit Unbehagen. So wie die Angst vor Rassismus, jetzt, wo die öffentliche Meinung auch im Westen so polarisiert ist, der Nahostkonflikt plötzlich im Rampenlicht steht.
Lina, helle Haare und selbstbewusstes Auftreten, sagt, ihre Schwester studiere gerade in Süddeutschland. Sie selbst spricht fließend Deutsch und möchte später auch an eine deutsche Universität. Doch jetzt habe sie Angst, dass sie sich „nicht frei ausdrücken“ könne. Durch die Medien hat sie erfahren, dass Proteste teilweise verboten wurden, dass Menschen verhaftet wurden. In ihren Augen ist dies eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. „Ich habe schon immer gesagt, dass ich in Deutschland studieren will. Doch jetzt zögere ich.“
Lina, Zayna und vier weitere Schüler*innen sitzen an einem Tisch in einem Pausenraum, kurz bevor der Unterricht wieder beginnt. Sie sind einige der wenigen Jugendlichen, die sich bereit erklärt haben, unter Wahrung der Anonymität mit der Presse über ihre Erfahrungen zu reden, die sie in diesen Tagen machen. Ihre sind jetzt untrennbar verbunden mit der politischen Lage: In einem Konflikt, der, wie sie betonen, nicht erst am 7. Oktober begonnen hat, hat der persönliche Alltag ständig eine politische Dimension.
Zeyna, 17 Jahre, Schülerin in Ramallah
Die Sicht, die in Palästina auf den Nahostkonflikt herrscht, ist oft eine ganz andere als in Israel und im Westen. Israel begründet die Angriffe auf Gaza, bei denen auch Zivilist*innen sterben, mit seinem Recht auf Selbstverteidigung nach dem Terrorangriff der Hamas. Für viele Palästinenser*innen ist der Angriff der Hamas hingegen eine Folge der Besatzung Israels und der jahrelangen Belagerung Gazas. Widerstand oder Terrorismus: zwei entgegengesetzte Narrative, die sich selten berühren.
Die Schulglocke klingelt, die Pause ist zu Ende, die Flure leeren sich. Lina, Zayna und die anderen Schüler*innen müssen zurück in ihre Klassen, in denen sie vor dem Chaos und der Gewalt um sie herum geschützt sind. Wenn auch nur für wenige Stunden.
Kinder, die eine Privatschule besuchen, sind in der Westbank eine Minderheit unter den 1,4 Millionen Schüler*innen. Nach Daten des Palästinensischen Zentralamtes für Statistik (PCBS) befinden sich im Westjordanland 1.896 öffentliche Schulen, 402 sind in privater Hand. In einem Gebiet, in dem der Mindestlohn etwa 460 Euro beträgt und 22 Prozent der Familien soziale Hilfen erhalten, kann sich nicht jedes Elternhaus einige tausend Euro Schulgebühren pro Jahr leisten. Und die Arbeitslosigkeit ist besonders unter gut ausgebildeten jungen Menschen hoch: 32 Prozent der Erwachsenen unter 30 Jahren und mit Universitätsabschluss haben keinen Job.
Die Privatschule in Ramallah ist aber nicht die einzige, die in ihrer Arbeit derzeit beeinträchtigt wird. Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge (UNRWA), das im Westjordanland 96 Schulen für 45.000 Schüler*innen betreibt, schreibt auf taz-Anfrage, drei Einrichtungen in Ostjerusalem und Hebron seien momentan geschlossen, der Unterricht finde online statt. Grund dafür seien Schwierigkeiten für das Personal, die Schulen zu erreichen. Eine weitere Schule bietet gar keinen Unterricht an, da den Schüler*innen ein adäquater Zugang zum Internet fehle.
„Die Verschlechterung der Sicherheitslage in der Westbank, inklusive Ostjerusalem, hat gerade bedeutende Auswirkungen auf das Leben palästinensischer Kinder, auch in den Flüchtlingslagern“, erklärt Adam Bouloukos, UNRWA-Direktor in der Westbank, gegenüber der taz. Es sind Kinder, die bereits vor Kriegsausbruch unter der Gewalt und den Spannungen gelitten haben. Diese Situation hindere sie daran, „in Sicherheit zur Schule zu gehen, ihre Freund*innen zu treffen und ihre Leben zu leben, frei von Angst“.
Die UNRWA verwaltet Schulen für die Nachfahren palästinensischer Geflüchteter, die während des Palästinakriegs 1948, nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung, aus ihren Häusern auf israelischem Boden vertrieben wurden. Oft leben sie immer noch in Flüchtlingslagern, in der Westbank sowie in Gaza. Manchmal befinden sich diese bebauten Camps am Rande der Städte, teilweise weiter außerhalb.
Das palästinensische Bildungsministerium hat sich ebenfalls vor wenigen Tagen zur Lage geäußert und sich an die internationale Gemeinschaft gewandt. In einer Mitteilung hieß es, die „Verletzungen des Rechts auf Bildung [durch israelische Kräfte, Anm. d. Red.] nehmen auch in der Westbank weiter zu“. 13 Schüler*innen seien seit dem 7. Oktober getötet worden, Dutzende festgenommen worden. Checkpoints, Straßensperren, Angriffe von Siedler*innen und die Abriegelung von Städten und Dörfern behinderten den freien Zugang von Lehrkräften und Jugendlichen zu den Einrichtungen.
Auf Nachfrage schreibt das israelische Militär, es habe in der Westbank eine Zunahme an „terroristischen Angriffen“ seit Beginn des Konflikts gegeben und die Armee führe „nächtliche Operationen zur Terrorismusbekämpfung“ durch, um Verdächtige festzunehmen. Außerdem habe man Checkpoints an verschiedenen Orten aufgestellt.
In der Tat haben Kinder, die in der Nähe von israelischen Siedlungen leben, seit Beginn des Krieges noch größere Probleme als ihre Altersgenoss*innen in den Großstädten, wie die Erfahrung einer deutschen evangelisch-lutherischen Schule zeigt. Talitha Kumi ist eine Einrichtung außerhalb Bethlehems, im Dorf Beit Jala nah an der israelischen Grenze, in der sich christliche und muslimische Kinder gemeinsam auf das palästinensische oder das deutsche internationale Abitur vorbereiten. Im Westjordanland lebt auch eine kleine Minderheit von Christ*innen. Beit Jala liegt eingebettet zwischen sanften, sonnigen Hügeln, zwischen palästinensischen Dörfern und israelischen Siedlungen. Ein friedlicher Ort in einer auch unter normalen Umständen nicht ganz einfachen Lage.
„Am Anfang haben wir zunächst nur eine Menge Einschläge gehört, einen riesigen Knall, bis wir merkten: Das hört gar nicht auf. Dann mussten wir Vorkehrungen treffen, weil vier Geschosse bis zu unserer Schule kamen, aber glücklicherweise vom Iron Dome abgeschossen wurden“, erinnert sich Schulleiter Matthias Wolf. Der Iron Dome ist das israelische Luftabwehrsystem. Auf einen Schlag wurde es den Kindern wieder bewusst, dass sie in einer Konfliktregion leben.
Die Schockwellen aus Gaza
Bei Raketenalarm geht es nur darum, Schutz zu suchen, wo es ihn eigentlich kaum gibt. Denn in der Westbank existieren keine Schutzbunker. Nachts hört man auf dem Schulgelände die Flugzeuge fliegen, spürt die Schockwellen, möglicherweise verursacht durch die Bomben auf Gaza, das knapp 70 Kilometer entfernt liegt. Die Unsicherheit, wie viel schlimmer die Lage werden könnte, wiegt auch auf dem deutschen Schulleiter schwer. Auf der einen Seite ist da die Verantwortung gegenüber den Kindern, den Schulbetrieb aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite steht die Verantwortung gegenüber den Lehrkräften, für deren Sicherheit zu sorgen.
Wolf hat sich inzwischen dafür entschieden, den 20 deutschen Mitarbeiter*innen eine Ausreisemöglichkeit anzubieten. Die sie am Ende alle angenommen haben, schweren Herzens, wie Wolf sagt. „Der Abschied war unheimlich schwer, weil wir natürlich wussten, dass wir die Palästinenser alleine lassen.“ In der Schule arbeiten sowohl deutsche als auch palästinensische Lehrer*innen, Letztere müssen bleiben.
Über den Landweg reisten die Deutschen zunächst nach Jordanien, in die Hauptstadt Amman, dann weiter. Von Deutschland aus unterrichten sie weiter die Schüler*innen, die sich auf das deutsche Abitur vorbereiten. Das palästinensische Personal übernimmt hingegen seit einigen Tagen wieder den Präsenzunterricht. „Innerhalb der Region um Bethlehem ist das Leben inzwischen relativ normal. Wir haben jedoch 150 Schüler, die in Jerusalem leben und nicht so leicht kommen können“, berichtet Wolf von Deutschland aus über Zoom. Jerusalem ist israelisch kontrolliert. Für den Weg nach Bethlehem, also ins Westjordanland, müssen die Schüler*innen Checkpoints passieren. Und die Unterrichtsstunden sind jetzt kürzer, sagt Wolf. Die Eltern möchten, dass die Kinder zu Hause sind, bevor die Dunkelheit einbricht.
Doch wie geht es den Kindern? Nervös seien sie, sagt Wolf, unruhiger, mit kürzeren Konzentrationsspannen. Und doch resilient: „Es ist erstaunlich, wie sich palästinensische Kinder einer Krisensituation anpassen“, findet der Schulleiter. Doch auch für sie sind dies traumatische Erfahrungen, ist die Zeit nach dem 7. Oktober eine Zäsur – auch wenn sie sich über die Jahre an den Konflikt in ihrer Heimat gewöhnt haben.
Auf die palästinensischen Lehrer*innen kommt jetzt eine Doppelbelastung zu: Tagsüber müssen sie einen „normalen“ Alltag für die Kinder in der Schule gestalten und abends für die eigenen Kinder zu Hause ebenso. Für ihre deutschen Kolleg*innen ist die Belastung hingegen eher moralischer Natur: Es ist das Wissen über das eigene Privileg. Als Europäer*innen, als Bürger*innen eines Staates, der sie vor Krieg und Gewalt schützt. „Wir haben uns verabschiedet, aber es bleibt doch ein trauriger Beigeschmack, weil die Menschen dort dieser Situation ausgeliefert sind“, sagt Wolf.
Der Schulleiter, geränderte Brille und energisches Auftreten, sitzt in seinem Arbeitszimmer in Deutschland, und ist hin- und hergerissen. Zwischen hier und dort, Sicherheit und Pflicht. Wenn alles so bleibe, wolle er in den nächsten Wochen wieder ausreisen. „Obwohl ich in meiner Heimat bin, obwohl ich in meinem Haus bin, fühle ich mich nicht an dem Ort, an dem ich sein sollte. Wenn die Sicherheitslage es ermöglicht, will ich meinen Kollegen wieder beistehen.“
Seine Kolleg*innen in Ramallah und Beit Jala, in den Flüchtlingslagern in Dschenin und Nablus versuchen eigentlich dasselbe: zu einer Normalität zurückzukehren, die den Kindern Träume und eine Zukunft ermöglicht. Und die hoffentlich besser ist als ihre Vergangenheit.
*Name von der Redaktion geändert
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