Antisemitismus im Nordkaukasus: Jagd auf jüdische Menschen

In der russischen Teilrepublik Dagestan stürmen Männer nach der Landung eines Fliegers aus Israel den Flughafen. Sie werden nicht gestoppt.

Männer laufen über ein Rollfeld, im Hintergrund ist ein Hubschrauber zu sehen

Aufgebrachte Männer stürmen das Rollfeld des Flughafens in Machatschkala Foto: AP

Berlin taz | In Russland ist es plötzlich wieder in aller Munde, das Wort „Pogrom“. Am Sonntag hatte ein wütender Mob aus Hunderten von Männern in der muslimisch geprägten Nordkaukasus-Republik Dagestan den Flughafen der Republikshauptstadt Machatschkala gestürmt – überzeugt, mit einem Flugzeug aus Tel Aviv seien jüdische Flüchtlinge angekommen. Mit lauten „Allahu Akbar“-Rufen stürmten sie bis aufs Rollfeld.

Auf Videos war zu sehen, wie sie Scheiben kaputtschlagen, Passagiere umringen und deren Pässe verlangen, alles überrennen, was sich ihnen in den Weg stellt. Mehr als 20 Menschen wurden verletzt, teils schwer. Die russischen Behörden ließen die Männer stundenlang gewähren, bis sie erst am Abend Spezialeinheiten zum Flughafen schickten.

Erst nach Mitternacht schien sich die Lage zu beruhigen. Angespannt bleibt sie auch weiterhin. Am Montag wurden in Dagestan mehrere Wohnungen durchsucht und 60 Menschen festgenommen.

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte für Montag seinen Premierminister Michail Mischustin, Vertreter aus Sicherheitsstrukturen und Vorsitzende der Parlamentskammern zu einer „großen Besprechung“ zusammengerufen. Der Schuldige der „Unruhen“, wie Zusammenstöße aller Art in Russland genannt werden, war aus offizieller Sicht schnell gefunden: der Westen. Dieser versuche, „die Ereignisse im Nahen Osten“ zu nutzen, um die russische Gesellschaft „zu spalten“, hieß es am Montag aus dem Kreml.

Hotel umstellt

Bereits das Oberhaupt der Republik Dagestan, Sergei Melikow, hatte zuvor von einem „gezielten Versuch unserer Feinde“ gesprochen, Dagestan destabilisieren zu wollen. Die „Feinde“ verortet er in der Ukraine, die die Menschen in Dagestan zu religiösem Hass und Gewalt aufgerufen haben sollen.

Eine Karte zeigt, dass die Regionen Karatschai-Tscherkessien, Kabardino-Balkarien und Dagestan im Süden Russlands liegen

Foto: taz

In der dagestanischen Stadt Chassawjurt hatten derweil aufgebrachte Männer ein Hotel umstellt, weil dort Passagiere aus Israel untergebracht sein sollten. Viele Evakuierungsmaschinen aus Israel landen im russischen Süden, der stark muslimisch geprägt und oft antijüdisch eingestellt ist.

Der Rabbi in der dagestanischen Stadt Derbent, wo sich nach seinen Worten noch etwa 400 jüdische Familien aufhielten, schlug Alarm. Seine Gemeinde wüsste gar nicht, wohin und verharre in Angst. Auch in anderen nordkaukasischen Republiken kam es zu Ausschreitungen.

In Naltschik in Kabardino-Balkarien wurden vor einer jüdischen Kultureinrichtung Reifen angezündet und die Wände mit antisemitischen Sprüchen beschmiert. In Karatschai-Tscherkessien forderten Demonstranten, alle Juden aus der Republik auszusiedeln.

Freundlicher Empfang

So viel Hass hat der russische Staat nichts entgegenzusetzen. Stattdessen werden Vertreter der Hamas – seit Jahren – freundlich in Moskau empfangen, für den Kreml gilt sie nicht als Terrororganisation. Offiziell verurteilt hat Moskau den Hamas-Angriff vom 7. Oktober nicht.

Die neueste Schuldzuweisung gegenüber dem Westen ist eine recht beschränkte Umgehung dessen, was in der verarmten Region im Nordkaukasus passiert – wie auch ein Nicht-Eingestehen-Wollen, welchen Boden die eigene, offizielle Meinung für eine derartige Welle des Antisemitismus bereitet.

Russlands Außenminister Sergei Lawrow hatte im vergangenen Jahr davon gesprochen, dass auch Hitler „jüdisches Blut“ gehabt habe, und damit für Empörung in Israel gesorgt. Wladimir Putin hatte sich für seinen Minister damals noch entschuldigt. Auf dem diesjährigen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg verbreitete Putin selbst krude Theorien und griff zum antisemitischen Klassiker: „Ich habe jüdische Freunde, aber …“ Diese „Freunde“ hätten gesagt, dass Wolodimir Selenski, der Präsident der Ukraine, kein Jude, sondern eine Schande fürs jüdische Volk sei.

Aus Dagestan, mit drei Millionen Ein­woh­ne­r*in­nen und so groß wie Niedersachsen, kommen viele Soldaten, die in der Ukraine als „Helden“ für Putins „militärische Spezialoperation“ sterben. Ihre Mütter, Schwestern, Ehefrauen hatten im vergangenen Jahr lautstark dagegen demonstriert. Der Staat hatte schnell eingegriffen.

Zerstörtes Vertrauen

Der Krieg in der Ukraine zerstört nicht nur das ohnehin schwache Vertrauen in die staatlichen Institutionen in Russland, er zerstört das Vertrauen zu jedem Einzelnen. Da sich seit den 1990ern in Dagestan der radikale Islamismus immer weiter verbreitete, kam es immer wieder zu Kämpfen zwischen Sicherheitskräften und bewaffnetem Untergrund.

Viele in Dagestan leben in Armut und Angst. Der Hass gegen „Andersdenkende“ wird von staatlicher Seite geschürt. Aus diesem Vorgehen beziehen manche Menschen ohne Perspektiven ihre ultramuslimische Identität, weil es schlicht nichts anderes gibt. Sie schlagen um sich – wie auf dem Flughafen von Machatschkala, während der Staat stundenlang zuschaut.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.