Nobelpreis für Literatur: Der Sound des Unsagbaren
Seit Langem schon galt Jon Fosse als Favorit. Jetzt bekommt der Norweger den Literaturnobelpreis 2023. Trotzdem ist das Nicht-Gesagte ihm am Wichtigsten.
Älter (na ja, er ist 64), weißer und männer als Jon Fosse: Das wäre schwierig geworden. Identitätspolitisch also eine problematische Wahl, die entsprechenden Reflexe auf Ex-Twitter kamen auch prompt. Das politisch erfreulichere Signal wäre Rushdie gewesen, die Chinesin Can Xue, zuletzt Buchmacherfavoritin, hätte in die Reihe der Entdeckungen gepasst, die die breite Öffentlichkeit noch nicht kennt.
Jon Fosse im taz-Interview, 2006
Fosse dagegen, wenngleich kein Populärliterat: ein Veteran, auch als Nobel-Mitfavorit, der in allen Formen und Genres erfolgreich agiert. Es gibt viele Bände mit Gedichten und Romanen von ihm, Essays dazu, seine mehr als dreißig Stücke werden seit Jahrzehnten auf den Bühnen Europas gespielt und in unzählige Sprachen übersetzt. Diesen weltweiten Erfolg hat Jon Fosse selbst in einem Interview mit der taz 2006 einmal so erklärt: „Ich verstehe mich als eine Art Songwriter und gute Songs kann man in allen Sprachen singen. Mit unterschiedlichen Orchestern, in unterschiedlichen Stilen.“
Was seine Heimat Norwegen angeht: Platz zwei hinter dem Klassiker Henrik Ibsen. Der deutsche Regisseur Romuald Karmakar hat vor auch schon Längerem eines davon, „Die Nacht singt ihre Lieder“, polarisierend verfilmt. Und in seinem Geburtsort Strandebarm arbeitet eine Fosse-Stiftung seit geraumer Zeit an der Verklassikerung des Autors.
Zuletzt war ein Schüler Fosses allerdings berühmter geworden als er: Karl Ove Knausgård, gelegentlich auch schon für den Nobelpreis gehandelt, der 1988 nach Bergen an der Westküste Norwegens kam und bei Jon Fosse an der Akademie für Schreibkunst studierte. Fosse ist durchaus ein poeta doctus, also ein theoretisch und philosophisch (und überdies theologisch) gelehrter Dichter, aber es war ihm weder das Schreiben noch gar das Lehren der Schreibkunst an der Wiege gesungen.
Hypnotisch heraufbeschworene Sprachlandschaft
Als Sohn eines Obstbauern fern von bildungsbürgerlichen Milieus aufgewachsen am Hardangerfjord, einer Landschaft, in die er in seinen Texten immer wieder zurückkehrt, oder vielleicht besser noch: die er in seinen Texten in eine in hypnotischen Sätzen heraufbeschworene Sprachlandschaft transformiert.
Als Fosse den Job an der Bergener Akademie bekam, war er selbst noch keine dreißig, hatte Vergleichende Literaturwissenschaft studiert und schon zwei Romane und viele Gedichte publiziert, und zwar, anders als Knausgård, in Nynorsk, der um Bergen herum konzentrierten und ländlicher konnotierten der zwei offiziellen Schriftsprachen, die es in Norwegen gibt.
Wer sich für einen Eindruck des jungen Fosse interessiert, findet in Knausgårds notorisch genauem Vielbänder „Mein Kampf“ – und zwar in „Träumen“, Band fünf – ein knappes literarisches Porträt, das den Lehrer als zwar etwas zergrübelt im Vortrag, in der Sache seiner selbst aber schon sehr gewiss zeichnet.
In der Begründung der Akademie heißt es, Jon Fosses „innovative Stücke und Prosa“ gäben „dem Unsagbaren eine Stimme“. Das klingt floskelhaft, aber macht mit der Floskel ex negativo immerhin klar, dass es bei Fosse nicht um engagierte Literatur geht, nicht um Politik, Fortschritt, den Willen zur Veränderung von Gesellschaft.
Ein Sog, aus dem man nicht mehr herauskommt
Inhaltsangaben zu seinen Stücken und seiner Prosa klängen schrecklich klischeehaft, nach Beziehungsdrama, Abteilung: zerquält, nach Alkohol, Depression. All das hat Fosse, bis zum Zusammenbruch, auch selbst erlebt, ohne daraus aber dieselbe kunstvolle Form autobiografischer Prosa des Banalen zu destillieren wie Knausgård.
Kunstvoll ist die Prosa Jon Fosse allerdings schon, aber auf andere Art. 2015, nach dem Zusammenbruch, hat er mit dem Schreiben seines Prosa-Hauptwerks begonnen, den sieben Bänden der schlicht (wenn auch auf altgriechisch) benannten Heptalogie. 2021 war er fertig damit, in der brillanten deutschen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel fehlt noch der Schluss.
Und wer sich in diese Prosa begibt, ist schnell hineingesogen und kommt nicht mehr raus. Es ist eine Sprache von atemberaubenden Rhythmusgefühl, in der es einen gar nicht wundert, sich verschiedene gleichnamige Figuren in der ersten und dritten Person übereinanderschieben zu sehen.
Zwei Männer namens Asle, die nicht nur der eine wie der andere, sondern beide auch so ziemlich wie Jon Fosse selbst aussehen. Sie sind Maler, und in wie stets gleichen und doch zugleich nicht gleichen Pinselstrichen beschreibt die Erzählinstanz, sich spaltend und sich wieder zusammenfügend, die sich verschiebende, sich wiederholende Wahrnehmung des einen und des anderen Asle, die Erinnerungen an eine geliebte, verstorbene Frau, die Gespräche und Nicht-Gespräche mit dem einzigen Freund, die mystische Entstehung der Bilder, als Entbergung und Offenbarung der Wahrheit beschrieben, die sich in der Sprache als Nachentbergung vollzieht.
Das Alltägliche trifft auf das Schreckliche
Fosse selbst sagte im Interview mit der taz dazu: „Und das kann Literatur: aufzeigen, wie wenig die Sprache enthüllt, indem man das Gesprochene oder mittels der Sprache Verschwiegene ins Verhältnis setzt zu dem, was andere sagen oder verschweigen.“ Für ihn sei ohnehin das Nicht-Gesagte das Wichtigste, so der damals 47-Jährige gegenüber der taz.
Man muss einen Sinn dafür haben, für die Rhythmen der Prosa, man hat sie treffend mit dem leisen Schaukeln eines Boots auf sanften Wellen verglichen; man muss offen sein für das Traumhafte und das für theologische Ahnungen und kunstreligiöse Gewissheiten Offene, das aber auf das Alltäglichste und am Alltäglichsten auch auf das Schreckliche trifft; man muss also auf diesem Ohr musikalisch sein, um mit Jon Fosse glücklich zu werden. Oder wie er selbst in der taz sagte: „Wir trauen eher dem poetischen, musikalischen Kern der Sprache als der Bedeutung.“
Man kann also, wie die Schwedische Akademie, der Ansicht sein, dass diese Musikalität eine ausgezeichnete und der höchsten Preise würdige Form des Literarischen ist.
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