Roman über die 1980er Jahre: Zwischen Westberlin und Nicaragua

In „Liebe und Revolution“ schildert Jörg Magenau ein politisiertes Milieu. Es ist ein Biotop, dem auch die taz entsprungen ist.

menschen schauen aus einem Fenster und winken in einen Kreutbeerger HInterhof

Teilnehmende Beobachter der linken Szene: Kreuzberg, 80er Jahre Foto: David Hornback

Eine Lesegruppe gehörte eben dazu. Links musste sie sein. Und an Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“ führte dann kein Weg vorbei. „Ein dickes Ding“, das weiß Paul, als er sich das erste Mal mit seinen zukünftigen Mitlesenden getroffen hat. „Da musst du dich durchbeißen, der sperrt sich dagegen, konsumiert zu werden“, sagt Beate. Die findet er toll, himmelt sie an, liebt sie wahrscheinlich, nein, liebt sie wirklich, auf alle Fälle bewundert er sie und beneidet sie auch ein wenig, weil sie es als Autorin auf die Feuilletonseiten der Frankfurter Allgemeinen geschafft hat. Beate hatte ihn gefragt, ob er nicht mal mitkommen wolle.

Er kommt mit, trifft in einer dunklen Berliner Hinterhauswohnung auf Kommilitonen aus seinem Philosophiestudium. Darunter ist ein Typ aus Bayern mit einem Protest-T-Shirt gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Der hat eine „knallenge, seitlich geschnürte schwarze Lederhose“ an.

Kenne ich. Das wird denken, wer auch nur ein einziges Mal vorbeigegangen ist an diesem dauerpolitisierenden Milieu von Politik- oder Philosphiestudierenden und solchen, die es vielleicht gerne gewesen wären, das im alten Westberlin so präsent war.

Es ist das Biotop, dem auch die taz entsprungen ist. Diesem Milieu hat Jörg Magenau, selbst ein paar Jahre lang Redakteur dieser Zeitung, seinen neuen Roman „Liebe und Revolution“ gewidmet. In gewisser Weise ist es eine Liebeserklärung geworden.

Jörg Magenau: „Liebe und Revolution“. Klett-Cotta, Stuttgart 2023. 304 Seiten, 24 Euro

Paul, der Protagonist, der in diese Welt hineinstolpert, sich nie ganz sicher ist, ob er wirklich dazugehört, ist so etwas wie der teilnehmende Beobachter in dieser Szene, in der es normal war, seinen marxistischen Lehrmeister an der Uni als intellektuelle Koryphäe anzuhimmeln.

Wolfgang Fritz Haug bekommt einen Ehrenplatz

Und so bekommt Wolfgang Fritz Haug, der von 1991 bis 2001 Professor für Philosophie an der Freien Universität war, eine Art Ehrenplatz in Magenaus Roman. Natürlich besucht Paul die „obligate“ Vorlesung „Einführung ins Kapital“ bei Haug. Sie werden „nie wieder erreichte Höhepunkte seines Studiums“.

Dem Autor sei Dank, werden die Lesenden nicht auf eine Bibliothek verwiesen, um die Gedankenwelt Haugs ein wenig nachvollziehen zu können. Wie die Mitschrift einer Vorlesung wirkt es, wie Magenau da Haugs Gedanken in der Zeit von Perestroika und Glasnost schildert.

Von dessen Konzept des „pluralen Marxismus“ ist da zu lesen. „Vielleicht ließen sich – bei Strafe des Untergangs, wie Haug gerne sagte – Sozialismus und Demokratie ja doch vereinen, waren Organisation und Subjektivität kein Widerspruch, sondern ineinander verzahnte Prinzipien und vielleicht würde marxistische Kritik zu einem Instrument werden, das nicht nur auf Ideologie und kapitalistische Wirklichkeit, sondern auch auf den Marxismus selbst anwendbar wäre.“ Wow! Das also war das theoretische Rüstzeug, mit dem sich Paul alsbald auf den Weg nach Nicaragua macht.

Auch so ein Beispiel linker Folklore

Nicaragua. Auch so ein Beispiel linker Folklore. Da war diese Zeit, in der es für viele logisch schien, ins Land der Sandinistischen Revolution zu gehen, eine Schule, eine Werkstatt, eine Näherei aufzubauen und damit an einer vermeintlich gerechteren Welt mitzuarbeiten, die gegen alles Kapitalistische rundrum bestehen konnte. Paul also geht nach Nicaragua. Er, der „wusste, dass er kein Draufgänger war“.

In dem Milieu, in das er geraten war, ist es eben ein bisschen normal gewesen, mindestens seinen Ernesto Cardenal gelesen zu haben oder eben nach Nicaragua zu gehen, um Teil einer Revolution zu werden, zumindest einer „revolutionären Situation“, wie es im Roman heißt. Und dann ist da die Sache mit Beate, die Liebe, der er davonläuft, weil er sich nicht vorstellen kann, dass einer wie er zurück geliebt werden könnte von einer wie Beate.

Sechs Monate bleibt Paul in Nicaragua, solange, bis er weiß, wie sinnlos das Projekt ist, für das er arbeitet, weil es nichts nützt, im Sinne der Frauenermächtigung eine Halle für Näherinnen zu bauen, wenn keine Stoffe aufzutreiben sind. Solange, bis er weiß, dass er nicht wirklich zum Revolutionär taugt.

Eine Gefährtin, mit der schläft und die er zu lieben versucht, wird auf dem Weg ins Gebiet der Contras umgebracht. Helfen kann er ihr nicht, er versteht sie und ihren Antrieb nicht mal richtig, so wie er das Versprechen von Daniel Ortega nicht versteht, freie Wahlen abzuhalten. Gefährdet er damit nicht die Revolution? Es geht nicht mehr. Paul ist nicht der einfachste Protagonist, den man sich als Medium für diese Zeit erschaffen kann. Magenau impft ihm derartig viele Selbstzweifel ein, dass man ihm bisweilen durch die Handlung helfen möchte.

Weh tut Pauls Blick auf Frauen

Und richtig weh tut es, wenn Magenau durch Pauls Augen auf die Frauen schaut, mit denen er ins Bett geht. Beim Sprachkurs irgendwo in der Provinz in Spanien kann oder will er sich erst Renate („Ich bin Nymphomanin“) nicht erwehren und lässt sich dann auf eine Art Internatsbeziehung mit Karo ein, einem Kind fast noch, die ihm davon erzählt, wie sehr sie doch ihr Pferd vermisse. „Paul konnte sich kaum sattsehen an diesem rosigen Mädchen.“ Oh je! Und: Finger weg!

Das möchte man Paul zurufen, dem Magenau den Lesenden doch arg nahekommen lässt. Aber vielleicht gehört das auch zu jener Zeit, dass Männer zwar an sich selbst und ihrer Rolle als Mann zu zweifeln beginnen und dennoch nicht aufhören können, wie Männer ohne jeden Selbstzweifel zu agieren. So wie Paul, der dann hinterher am liebsten doch nicht gemacht hätte, was er angerichtet hat. „‚Ich liebe dich‘, sagt Karo da zu Pauls Bestürzung, denn so hatte er es ja auch nicht gemeint“, heißt es an einer dieser Stellen, an denen man sich von diesem Paul am liebsten schnell verabschieden würde. Aber wie steht es um die Revolution? Das würde man dann verpassen. Also weiter mit Paul.

Das soll eine Revolution sein, die einen ihrer Höhepunkte darin hat, dass Menschen aus einem untergehenden Staat vor Banken anstehen, um sich ihr Begrüßungsgeld abzuholen?

Als der zurückkehrt, landet er in der nächsten Revolution. Was heißt hier Revolution? Die DDR hat ihre Grenzen geöffnet. Die Leute aus dem Osten lassen sich von Westberlinern umarmen. Das soll eine Revolution sein, die einen ihrer Höhepunkte darin hat, dass Menschen aus einem untergehenden Staat vor Banken anstehen, um sich ihr Begrüßungsgeld abzuholen? Hat Paul dafür seinen Haug studiert?

Mit Beate, die für die FAZ als Reporterin unterwegs ist, durchschreitet er das untergehende Westberlin. Zudem gehört auch die taz, so wie sie damals war. Im Café Adler am ehemaligen Checkpoint Charlie sehen sie Arno Widmann, damals Literaturredakteur der taz. Eine Sehenswürdigkeit zweifellos. Sie bestaunen den Mann, der im „Adler“ am Kaffeetisch seiner Redakteurstätigkeit nachgekommen ist, lassen sich von ihm seine Lebensanekdote erzählen und taumeln weiter durch diese merkwürdige Revolution, deren Zeugen sie gerade werden.

Und nebenbei müssen sie über sich reden, ihre Gefühle, seine Flucht vor ihr, ihr Abtauchen, all die Missverständnisse, die dazu geführt haben, dass er nicht wusste, dass sie von ihm schwanger geworden war. Liebe? Man weiß es nicht. Revolution? Mit dem Sozialismus war es jedenfalls erst mal vorbei. Alles nicht so einfach für einen wie Paul. Alles nicht so einfach für das alte linke Westberlin. Wer das ein bisschen verstehen möchte, sollte Jörg Magenaus Roman lesen.

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