Rezension zu „Südstern“ vom Tim Staffel: Kämpfende Samariter

Tim Staffel beschwört das intensive Großstadtleben und die Macht der Liebe, allem Prekären zum Trotz: „Südstern“ ist ein Berlinroman mit Sprachflow.

Quirlige Szene mit vielen Passanten am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg bei Nacht

Das Kottbusser Tor in Kreuzberg ist ein Schauplatz von Tim Staffels neuem Roman Foto: Christian Jungeblodt

Auf einer seiner Ebenen hat dieser Roman die Anmutung von „Lindenstraße“ auf ADHS. Menschen am Straucheln und Problemehaben. Alltagsschicksale und Alltagssorgen in einer hier allerdings kreuzbergisch nah am Kippen gebauten Kiezwelt.

Darin zwei Hauptfiguren, aus deren Perspektiven abwechselnd erzählt wird, ein Mann, eine Frau, beide noch jung, Deniz und Vanessa, die sich kennenlernen und ineinander verlieben, aber beide nicht frei sind, er, weil er seinen an Parkinson erkrankten Vater pflegt, sie, weil sie noch mit Olli zusammen ist.

Beide sind sie auf ihre Art gute Samariter. Deniz als engagierter Polizist mit problematischer Partnerin im Streifenwagen in einer aus den Fugen geratenen Welt voller gesellschaftlichem Druck, Armut, Straßen- und Männergewalt. Sie, mit mehr als einem Bein in der Illegalität, als Drogenkurierin im Nebenjob, die aber tatsächlich eher Drogenberatung betreibt, gar nicht am Geld interessiert ist, sondern daran, den Leuten zu geben, was sie wirklich brauchen, um das harte Leben durchzustehen, Aufputschmittel, Antidepressiva, schmerzlinderndes Gras.

„Ich heiße Vanessa und bin ein Engel“, das ist der erste Satz des Romans.

Und um die beiden herum Boheme- und Problemexistenzen, der von seinen Einsätzen als Fallschirmjäger traumatisierte Bruder, Frauen, die vor ihren Männern fliehen müssen, Männer mit Schulden, überforderte Krankenpflegerinnen.

Die Sprache ist präsent

Auf einer anderen Ebene ist „Südstern“ von Tim Staffel aber auch reiner Flow. Die Sprache ist sehr präsent. Eine Kaskade kurzer Sätze, im dramatischen Präsenz aneinandergereiht, Atemlosigkeit transportierend, streckenweise wie gerappt, ohne Übergänge, man wird beim Lesen von einer Episode in die nächste geworfen. Das ist ein guter Effekt. Man lehnt sich nicht zurück beim Lesen. Dahinter liegt ein geradezu klassischer fünfaktiger Aufbau.

Die beiden Ebenen bedingen einander. Der Sprachflow braucht Szenenfutter. Tim Staffel gibt es ihm, baut noch eine Wendung, noch eine Nebenfigur ein. Und zugleich macht der Flow das Konstruierte dieses Romans nicht nur erträglich, er bringt es zum Glänzen. „Alle kämpfen sich durchs Leben“, heißt es, und die Sprache nimmt dieses Kämpfen ernst, will es beglaubigen, ihm literarisch Anerkennung schenken.

Die Erzählperspektiven sind dabei ungewöhnlich und kunstvoll gebaut. Deniz und Vanessa sagen zwar jeweils „ich“, doch man weiß nicht recht, ob es tatsächlich Ich-Perspektiven sind. Dazu erzählen sie zu sachlich und ohne individuelle Sprachfärbung. Es scheint eher so, als ob eine dem jeweiligen Ich zugeordnete, ihm nahe Instanz hier erzählt, zwischendurch denkt man: als ob die Seelen dieser Figuren dem jeweils anderen objektiv berichten würden, was gerade vorfällt.

Als Deniz und Vanessa sich kennenlernen und miteinander reden, wechseln sich die beiden Perspektiven schnell ab. Ziemlich genau in der Mitte verschmelzen sie geradezu, da haben die beiden Hauptfiguren zum ersten Mal miteinander Sex. Nicht nur an dieser Stelle fragt man sich, ob das alles nicht auch eine Männerphantasie ist, aber zugleich ist diese Frage egal, so sehr ist das hier auch ein Liebesroman à la „Außer Atem“ (nur ohne Verrat), so vehement wird hier die Macht der Liebe beschworen. Deniz und Vanessa, das sind zwei Königskinder, die schließlich doch zueinander finden.

Gute Orte, freundliche Seelen

Überhaupt ist das Buch auch eine große Sozialphantasie. Der anfängliche Realismus löst sich zwischenzeitlich auf, bevor er zum Ende hin dann zurückkommt, es gibt dystopische Momente, der Strom wird rationiert, Wildschweine drängen in die Großstadt. Das Ganze hat etwas Bedrohliches. Aber es gibt hier – Kreuzberg ist in vielem eben doch das Herz von Deutschland oder zumindest ein Herz – auch die guten Orte und die freundlichen Seelen.

Die Bars, an denen die Einsamen zusammenkommen können. Die Menschen, die sich um Deniz' dementen Vater kümmern, wenn der in einem Späti landet. Und überhaupt treffen die meisten Figuren schließlich dann doch die richtigen Entscheidungen und schrecken vor der endgültigen Selbstzerstörung zurück. Die meisten, nicht alle. Drogentote kommen vor.

Die entscheidende Frage ist, warum man diesem Roman so gern folgt. Das liegt – auch wenn es spannend bleibt, was aus dem traumatisierten Bruder wird und wann Vanessa sich endlich von Olli trennt – nicht so sehr an der Handlung. Es liegt am Flow, am treibenden Rhythmus der Sätze; man freut sich über den Glauben an die Kraft der Literatur, der in diesen Sätzen steckt.

Ein nostalgisches Flirren

Und es liegt daran, dass, aller Gegenwartsanmutung zum Trotz, ein nostalgisches Flirren über diesem Roman liegt. Die Großstadt, das ist hier, allem Prekären zum Trotz, auch das wilde, intensive Leben. Und der Roman schildert es, als hätte es Berlinklischees rund um „Arm, aber sexy“, Partyhauptstadt, Mustafa Kebab und so weiter nie gegeben.

Tim Staffel: „Südstern“. Kanon Verlag, Berlin 2023. 288 Seiten, 25 Euro

Vielleicht ist es eher ein 90er-Jahre-Kreuzberg, das Tim Staffel beschwört, eines von vor der Gentrifizierung und der Touristifizierung des Stadtteils. Aber das macht er mit Verve und in aller Rauheit menschenfreundlich. „Diejenigen, die es noch können, leben ihr Leben weiter. Keiner weiß genügend über das der anderen“, heißt es gegen Schluss. Auch das ist etwas, um das der Roman weiß.

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