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Profiradsport im UmbruchFlamboyante Fusion

Das Transferkarussell dreht sich auch im Radsport wie wild: Während zwei Topteams fusionieren wollen, geht Primož Roglič zu einer deutschen Equipe.

Aus Kollegen werden Konkurrenten: Sepp Kuss (M.) mit Jonas Vingegaard und Primoz Roglic (r.) Foto: Susana Vera/reuters

Was die Balltreter können, können die Pedalbeweger erst recht. Nach dem schrillen Transfersommer im Fußball mit dem Wechsel von Harry Kane zum FC Bayern München und Altstars nach Saudi-Arabien legt jetzt der Radsport nach. Eine Megafusion aus dem mit insgesamt 65 Saisonsiegen erfolgreichsten Team Jumbo-Visma mit dem nach Siegen zweiterfolgreichsten Team Soudal Quick Step (55 Erfolge) erschüttert die Szene. Hintergrund ist, dass Jumbo-Visma das Geld fürs weitere Wachstum ausgeht. Hauptsponsor Jumbo will 2024 aussteigen.

Vollwertigen Ersatz hat Rennstallchef Richard Plugge bisher offenbar noch nicht gefunden. Avancen von Sponsoren aus Saudi-Arabien zerschlugen sich. Womöglich auch deshalb, weil der Wertekanon vom zweiten Sponsor Visma – Diversität, Nachhaltigkeit und Verantwortung für die Gesellschaft – nicht kompatibel sind mit dem Sportwashing-Geschäft im Lande des Mohammed bin Salman ist.

Der saudische Kronprinz gilt als Auftraggeber am Mord des Regimegegners Jamal Kashoggi. In diesem Jahr wurde laut Informationen von Amnesty International bereits an 100 Personen das Todesurteil vollstreckt. Nicht jeder Geldgeber will damit in Verbindung gebracht werden.

Auf der Seite des designierten Fusionspartners will hingegen der Boss Patrick Lefevere gern in den Ruhestand treten. Und auch der Finanzier, der tschechische Bergbauunternehmer Zdenek Bakala, dem 80 Prozent des Rennstalls gehören, wird etwas müde. Lefevere bestätigte die Fusionsverhandlungen: „Bereits seit dem Sommer treffen wir uns“, gab er zu.

Der Megadeal sorgte für einen Aufschrei. Zum Einen wären die Sieger der letzten fünf Grand Tours – Jonas Vingegaard (Tour de France 2022 und 2023), Remco Evenepoel (Vuelta 2022), Primož Roglič (Giro 2023) und Sepp Kuss (Vuelta 2023) – in einem alles beherrschenden Team vereint. Zum anderen würden bei einer Kaderbegrenzung von 30 Profis zwanzig Rennfahrer – und Dutzende Betreuer – arbeitslos.

Neuer Anlauf aus dem Unterschlupf heraus

Für sie will Lefevere nun als letzten Dienst vor dem Gang aufs Altenteil noch einen Auffangrennstall installieren. „Lieber ein abgespeckter Rennstall als gar keiner“, atmete Quick-Step-Urgestein Dries Devenyns auf.

Außerdem gibt es Fluchtbewegungen. Vuelta- und Giro-Sieger Primož Roglič suchte angesichts der schwindenden Chancen auf eine Kapitänsrolle bei der Tour de France im neuen Fusionsrennstall das Weite. Unterschlupf fand er bei Bora hansgrohe. „Als es spruchreif wurde, dass er weg will, haben wir unsere Fühler ausgestreckt. Wir können jetzt stolz sein, dass Primož sich für uns entschieden hat“, sagt Rennstallchef Ralph Denk der taz.

Mit Roglič eröffnet sich für ihn plötzlich die Chance, tatsächlich die Tour de France zu gewinnen. „Wir waren mit den Ergebnisse der großen Rundfahrten dieses Jahr nicht ganz zufrieden. Wir waren Top Ten, aber auch nicht mehr. Das ist nicht unser Anspruch, vor allem nicht nach dem Giro-Sieg 2022. Wir brauchen keinen Hehl daraus machen: Für Bora ist das große Ziel die Tour de France“, bekräftigte Denk.

Die Tour bringt nicht nur sportlichen Ruhm. Sie bedeutet auch bares Geld für die Sponsoren. „Zwei Drittel der gesamten Werbewerte im Radsport werden bei der Tour de France gemacht“, rechnete die Sponsoringbeauftragte bei Geldgeber Bora dieser Zeitung vor. Dabei handelt es sich schon jetzt durchschnittlich um das Mehrfache der Gelder, die ein Hauptsponsor einsetzt. Der Return of Investment, also der Rückfluss der zur Verfügung gestellten Gelder in Form von Werbereichweite, lag bei Bora in den letzten Jahren stabil zwischen dem Sechs- bis Zehnfachen.

Umso verblüffender ist, dass das Dominanzteam der letzten beiden Jahre, eben Jumbo- Visma, keinen neuen Sponsor fand. Der Einstieg vom Logistikgiganten Amazon füllt bei den Niederländern offenbar nicht ganz die Jumbo-Lücke. Die Fusion wird also weiter vorangetrieben.

Mit Roglic kann Bora hansgrohe nun auf den ganz großen Coup und noch mehr globale Sichtbarkeit hoffen. Die Anspannung steigt in Bayern aber auch. „Wir wissen ja, wie Primož performt hat bei Jumbo. Und wir wissen auch, wenn er das bei uns nicht tut, sind wir die Buhmänner. Deshalb müssen wir uns zusammenreißen, dass er auch bei uns schnell fährt“, formulierte Denk die neuen Aufgaben.

Der Radsport wird in diesem Herbst neu geordnet. Der Transfer von Roglič sorgt für mehr Konkurrenz. Die Grenzen des Wachstums erfährt im Gegenzug Branchenführer Jumbo-Visma.

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