Olympiasieger über Leichtathletik-Krise: „Es geht zu sehr um Pfründe“

Hochsprung-Olympiasieger Dietmar Mögenburg vermisst in der zuletzt so erfolglosen deutschen Leichtathletik Eigenständigkeit und Risikobereitschaft.

Julian Weber mit dem Speer in der Hand kurz vor dem Wurf

Undankbarer vierter Platz: Speerwerfer Julian Weber erreichte die beste deutsche WM- Platzierung Foto: Matthias Schrader/ap

taz: Herr Mögenburg, die deutsche Leichtathletik steckt in einer tiefen Krise. Zum ersten Mal seit 1983 überhaupt gab es bei den Weltmeisterschafen, in Budapest, keine Medaille. Was steckt, aus Ihrer Sicht, dahinter?

Dietmar Mögenburg: Da gibt es sicher mehrere Gründe. Aber mein Eindruck ist, dass die deutsche Leichtathletik ein strukturelles Problem hat. Sie ist überorganisiert. Das hemmt bei den Athleten die Eigeninitiative. Es hat sich da ein hypertroph aufgeblähter Apparat gebildet aus Verein, Stützpunkt, Kader, Leistungszentren. Darin werden die Athleten aufgerieben, sie verlieren ihre Selbstständigkeit, die eine wichtige Voraussetzung zur Erbringung von Leistung ist.

62, wurde 1982 Europameister und 1984 Olympiasieger im Hochsprung. Heute arbeitet er als Sportlehrer und Trainer.

Leiden die Athleten unter einem Übermaß an Zuwendung?

Eine gewisse Eigenständigkeit ist eine Voraussetzung für überragende Leistungen. Die großen Trainer haben ihre Athleten immer auch zu großer Selbstständigkeit erzogen; das fehlt mir heute ein bisschen. Nichts etwa gegen Psychologen, aber heute wird jedes Problem des Athleten an die jeweilige Instanz delegiert, die Seele wird ebenso analysiert wie die Bewegungsabläufe; das muss nicht schlecht sein, aber man muss dem Athleten auch die Chance einräumen, Probleme eigenständig zu bewältigen. Das fördert die Leistung und die Persönlichkeitsentwicklung gleichermaßen.

Der Ruf nach mehr Geld wird allerorten laut.

Das kann nur eine begleitende Maßnahme sein. Mit dem Geld müsste das richtige angefangen werden. Es müsste individuell und zielgerichtet eingesetzt werden. Es geht schon jetzt viel zu sehr um Pfründe, die die Beteiligten sichern wollen. Es ist ja gut, dass die Trainer, die ja auch oft gut sind, sozial abgesichert sind. Aber manchmal wünsche ich mir eine größere Risikobereitschaft bei den Betroffenen. Dieses Prinzip der oft gemütlichen Aufgehobenheit im Schoß dieses Systems müsste vielleicht häufiger aufgebrochen werden.

Beim DLV hat es nach dem Debakel von Budapest erste personelle Konsequenzen gegeben; die bisherige Cheftrainerin Annett Stein wurde von ihren Aufgaben entbunden, der neue starke Mann ist Sportdirektor Jörg Bügner.

Frau Stein, die ja sehr engagiert war, ist wohl das Bauernopfer. Herrn Bügner wünsche ich viel Glück, aber ich glaube auch, dass der Verband selbst sehr ratlos ist.

Es gibt beim DLV auch ein Problem mit dem Nachwuchs. Die Felder bei den deutschen Nachwuchs-Meisterschaften dünnen immer mehr aus. Warum verliert die Leichtathletik so drastisch an Zuspruch?

Der Fußball ist natürlich ein übermächtiger Konkurrent. Außerdem wird das Individuelle in dieser Gesellschaft nicht mehr so gefördert. Das Gruppendenken ist sehr beherrschend. Individualität wird hier häufig mit Egoismus verwechselt. Mannschaftssport soll ja das Sozialverhalten fördern. Das ist ja auch gut und wichtig. Aber die Leichtathletik sollte den Mut haben zu sagen: Wir wenden uns an Individualisten. Denn ohne Individualität gibt es auch keine funktionierende Gesellschaft.

Sie leben seit fast zwanzig Jahren mit Ihrer norwegischen Frau und Ihren zwei Kindern in der Nähe von Oslo. Norwegen ist in Bezug auf die Einwohnerzahl im Vergleich zu Deutschland ein winziges Land, hat in Budapest aber vier Medaillen geholt. Darunter zweimal Gold mit Karsten Warholm (400 Meter Hürden) und Jacob Ingebrigtsen (5.000 Meter). Was läuft in Ihrer Wahlheimat anders?

Grundsätzlich hat der Sport in Norwegen, einem übrigens wirtschaftlich sehr gesunden Land, einen ganz anderen Stellenwert als in Deutschland. Er wird mehr als Kulturgut betrachtet. Es herrscht ein sehr solidarisches Gesellschaftsgefüge. Davon profitiert auch der Sport. Schon in der Schule hat er hier einen anderen Stellenwert als in Deutschland, die Schüler haben im Regelfall an drei bis vier Tagen Sportunterricht. Es gibt in diesem Land auch kein Ressentiment gegenüber der Leistung eines Einzelnen. Im Gegenteil, Athleten wie Warholm und Ingebrigtsen sind Nationalhelden. Was in Norwegen sehr gut funktioniert, ist eine mit viel Geld und Know-how ausgestattete Institution, die sich Olympiatoppen nennt. Das ist eine zentralistische Einrichtung für den Spitzensport, in der sich alle Kräfte bündeln. Dort wird zielgerichtet explizit der Spitzensport gefördert.

Ließe sich dieses norwegische Modell auch auf Deutschland übertragen?

Ein bisschen verwandt damit sind die Olympiastützpunkte. Doch die funktionieren nicht reibungslos; da gibt es schöne Schlagworte, hehre Zielsetzungen, doch das sind häufig potemkinsche Dörfer, hinter denen nicht viel ist.

Es heißt, Deutschland ist in der Leichtathletik nicht schlechter geworden, aber die anderen Nationen besser.

Es hat in den vergangenen Jahren einen enormen internationalen Wissenstransfer gegeben. Auch durch die neuen Medien, die ja so neu gar nicht mehr sind. Das, was man fast schon antiquiert „Globalisierung“ nennt, kommt im Sport immer mehr zum Tragen. Da passiert es dann aber eben auch, dass ein indischer Speerwerfer – Neeraj Chopra – Olympiasieger und Weltmeister wird – mit einem deutschen Trainer: Klaus Bartonietz. Ich finde das im Prinzip nicht schlecht, das ist mir lieber, als wenn sich im Sport Nationalismus breit macht wie leider ja oft in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Wenn der Sport da zum Vorbild werden könnte, wäre das eine Funktion, die ihm guttäte.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.