Erdbeben in Marokko: Schleppende Hilfe – Kritik an König
Nach dem Beben steigen die Totenzahlen. Weil Mohammed VI. abwesend war, verzögerte sich offenbar die Hilfe.
Am Sonntag berichtete das Innenministerium in Rabat von insgesamt 2.122 Toten und 2.421 Verletzten, mehr als 1.400 davon schwer. Unterdessen lief die Hilfe aus dem Ausland an – allerdings nur schleppend.
In Marrakesch herrsche eine Mischung aus Verzweiflung und Solidarität, schildert die Journalistin Aicha Mohamed Makhlouf gegenüber der taz. „Das große Beben hat die Strukturen vieler uralter Häuser so beschädigt, dass auch die leichten Nachbeben sie zum Einsturz bringen können.“ Viele Menschen in der Stadt würden nun auf Parkplätzen oder in Parks übernachten.
Empfohlener externer Inhalt
Am Sonntagmorgen erschütterte ein Nachbeben die Katastrophenregion. Es habe gegen 9 Uhr Ortszeit ein weiteres, wesentlich schwächeres Beben gegeben, sagte Nasser Jabour, Leiter einer Abteilung des Nationalen Instituts für Geophysik, der marokkanischen Nachrichtenseite Hespress.
Bei dem Hauptbeben in der Nacht auf Samstag waren in mehreren Provinzen und Präfekturen Gebäude eingestürzt. In Marrakesch kollabierte das Minarett einer historischen Moschee, Gebäude in der Altstadt sowie Teile der Stadtmauer wurden zerstört.
Etliche weitere Gegenden im Atlasgebirge und der angrenzenden Wüste bis hin zur Küstenstadt Agadir sind von dem Erdstoß mit der Stärke 6,8 auf der Richterskala betroffen, der Berichten zufolge der schwerste seit 100 Jahren war. Mehr oder weniger stark betroffen ist rund ein Fünftel des Landes, ein Gebiet so groß wie Österreich.
Häuser aus Adobe
Je weiter die Rettungskräfte zum Epizentrum unweit von Ighil, 72 Kilometer südwestlich von Marrakesch, vordringen, umso schlimmer sind die Bilder. Ganze Dörfer bestehen nur noch aus Trümmern. Die Häuser in den Dörfern und Altstädten sind meist aus Adobe gebaut, an der Sonne getrockneten Lehmziegeln. Die Beerdigungen – nach islamischem Brauch müssen diese spätestens 24 Stunden nach dem Tod stattfinden – reißen nicht ab.
Es dauerte fast einen ganzen Tag, bis endlich ein Krisenstab auf höchster Ebene einberufen wurde. Marokkos König Mohammed VI. hatte sich wie so oft in Frankreich aufgehalten – ob in einer seiner dortigen Residenzen zum Urlaub oder zur ärztlichen Behandlung, war am Sonntag noch unbekannt. Im Laufe des Samstags kehrte der Monarch zurück.
Die spanische Zeitung El País berichtete, dass die ersten Ärzte, die in Marrakesch Hilfe leisteten, fast alles Ausländer im Urlaub waren. Helfer des Roten Halbmonds trafen auf dem bekannten Platz Dschemaa el-Fna in Marrakesch, auf dem die Bewohner der Medina (Altstadt) Zuflucht suchten, erst mehr als drei Stunden nach dem Beben ein. Unzählige Freiwillige aus größeren Städten brachten auf eigene Faust Hilfsgüter in die abgelegenen Täler des Atlasgebirges, lange bevor staatliche Kräfte eintrafen.
Die Beamten des Krisenstabs, die bei der von Mohammed VI. 18 Stunden nach dem Beben einberufenen Dringlichkeitssitzung im Königspalast anwesend waren, übermittelten dem Monarchen „die jüngsten Ereignisse, insbesondere in einigen Städten, die nachts nicht zugänglich waren und in denen die Aktualisierung der Lage und das Eingreifen der Rettungsdienste erst bei Morgengrauen stattfinden konnte“. Dies erklärte das Königshaus – wie um die Verzögerung des königlichen Auftritts zu entschuldigen.
Mohammed VI. rief eine dreitägige Staatstrauer aus und gab der Armee den königlichen Befehl auszurücken. Da hatten Armee, Feuerwehren und Zivilschutz allerdings schon längst die Rettungsarbeiten aufgenommen.
THW schickt Helfer vorerst nach Hause
Die Abwesenheit des Königs verzögerte wohl auch das Gesuch nach Hilfe im Ausland. Die Zeit dränge, sagte Arnaud Fraisse, Gründer der Organisation Retter ohne Grenzen. Ein Team der Organisation wartete in Paris auf grünes Licht aus Rabat. „Unter den Trümmern sterben Menschen und wir können nichts tun, um sie zu retten.“
In sozialen Medien wurden Klagen laut, dass die Regierung keine Hilfe aus dem Ausland annehme. Dass der König erst 18 Stunden nach dem Beben aus Frankreich zurückkam und die Regierung bisher keine Erklärung abgegeben hat, werde bei einigen der im Freien übernachtenden Familien diskutiert, berichtet auch die Journalistin Mohamed Makhlouf. „Doch natürlich ist jetzt nicht die Zeit für Aufarbeitung“, sagt sie, „wir stehen alle unter Schock und hoffen auf die Rettung der Verschütteten.“
Marokko bat erst am Sonntagmorgen beim Nachbarn Spanien offiziell um Hilfe. Spanien entsandte noch am Sonntag ein Flugzeug mit 56 Rettungshelfern und vier Spürhunden nach Marokko. Die Spezialisten gehören zur militärischen Notfalleinheit UME, die bereits nach dem Erdbeben in der Türkei im Februar im Einsatz war. Der französischen Regierung lag am Sonntagmorgen noch kein Gesuch vor, obwohl sie, wie viele andere Länder auch, Unterstützung angeboten hatte.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärte auf X, ehemals Twitter, das Technische Hilfswerk (THW) bereite sich auf einen Einsatz im Erdbebengebiet vor. Am Sonntagnachmittag teilte das THW allerdings mit, es würde seine nahe dem Flughafen Köln/Bonn bereits versammelten Helfer vorerst wieder nach Hause schicken. Da bisher kein Hilfeersuchen von Marokko eingegangen sei, würden die THW-Kräfte an ihre Standorte zurückkehren.
Zwischenzeitlich habe sich das Zeitfenster, in dem die Wahrscheinlichkeit groß sei, Menschen lebend zu retten, fast geschlossen. Seit Samstagabend hatten Einsatzkräfte bereitgestanden. Das Team bleibe aber einsatzbereit, unterstrich das THW zugleich. Nach einem Erdbeben zählt jede Stunde. Nach 72 Stunden sinkt die Wahrscheinlichkeit, Überlebende aus Erdbebentrümmern zu bergen, rasant gegen null.
Das benachbarte Algerien, mit dem Marokko seit Jahrzehnten in einem Konflikt um die von Marokko besetzte Westsahara lebt, öffnete bereits am Samstag, lange vor dem Erscheinen von Mohammed VI. seinen Luftraum, um den Transit von Hilfsgütern zu erleichtern.
Hilfe angeboten hat auch Israel. Die beiden Staaten sind im Begriff, ihre gegenseitigen Beziehungen zu normalisieren. Israelische Medien berichteten am Sonntag, dass die Regierung jedoch noch auf Rückmeldung aus Rabat warte, um ein Hilfsteam der israelischen Streitkräfte zu schicken. Das israelische Außenministerium entsandte eine fünfköpfige Delegation, um die Hilfe zu koordinieren. (mit Agenturen, Mitarbeit: Jannis Hagmann)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!