Erdbeben in Marokko: Im Stau ins Katastrophengebiet
In Marokko haben Helfer noch immer nicht alle Bergdörfer im Atlasgebirge erreicht. In Teilen von Marrakesch kehrt derweil wieder der Alltag ein.
Doch noch etwas erschwert das Vorankommen: Stoßstange an Stoßstange versperren Privatautos den Weg. Sie sind voll beladen mit Spenden aus allen Landesteilen. Nachdem in der Nacht auf Samstag die Erde bebte, überspülte eine Welle der Solidarität das Land. Soldaten versuchen nun, Ordnung in das Chaos zu bringen.
Am stärksten getroffen hat es offenbar die Dörfer in der Provinz Al-Haouz südlich der bei Touristen beliebten Stadt Marrakesch. In viele Bergdörfer haben es die Rettungskräfte allerdings noch gar nicht geschafft.
„Je höher wir kommen, desto größer und grausamer sind die Folgen des Bebens“, sagt ein von den letzten Tagen sichtlich gezeichneter Armeeoffizier der taz, während er einen mit Trinkwasser beladenen Armeelastwagen am Stau vorbeidirigiert. Ausländische Helfer hätten hier tagelang im Stau gesteckt, erzählt er. Die Frustration über die schleppende Hilfe ist ihm deutlich anzumerken.
Die Zahl der bislang registrierten mehr als 2.800 Toten und 3.000 Verletzten steigt derweil noch täglich an.
Im Gegensatz zu den Bergdörfern ist Marrakesch in weiten Teilen verschont geblieben. In der Innenstadt erinnern nur die in Richtung Atlas fahrenden Lastwagenkonvois an die Tragödie. Die Schaufenster der Modeläden und die Fast-Food-Restaurants werden für die Touristen, die zahlreich in der Stadt geblieben sind, wieder poliert.
Gegensatz zweier Welten
Doch der Schein der modernen Innenstadt trügt, wie ein Besuch der Medina, der Altstadt Marrakeschs, zeigt. Auf dem zentralen Platz Dschemaa el-Fna, auf den ein Minarett einer historischen Moschee herabstürzte, wird auch am Dienstagmittag noch mit Händen und schwerem Gerät nach Verschütteten gegraben. Eine Überlebenschance haben sie allerdings kaum noch. Freiwillige kommen mit Tüten voller Lebensmittel, Decken und Medikamenten auf den Platz. Der Gegensatz der zwei Welten in Marrakesch könnte größer kaum sein.
„Ich dachte, ein Flugzeug sei abgestürzt“, sagt Mohammed Lagar, ein Kioskbesitzer. Sein Laden befindet sich in einer schmalen Gasse, die vom Platz in das Labyrinth der Altstadthäuser führt. Feuerwehrleute graben nach seinen Nachbarn, die unter einer zwei Meter hohen Schicht von Ziegeln und Steinen liegen könnten. „Ich habe sie seit Freitag nicht mehr gesehen. Vielleicht sind sie in einem Krankenhaus“, sagt er und schaut auf den Trümmerberg.Dass sie tatsächlich unter den vielen Verletzten in Marokkos Krankenhäusern sind, scheint er allerdings selbst nicht zu glauben.
Auf dem Dschemaa el-Fna schlafen auch vier Tage nach dem Beben noch Hunderte Familien aus Angst vor Nachbeben, aber auch, weil sie alles verloren haben. „Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, denn Geld für einen Wiederaufbau habe ich nicht“, sagt die 75-jährige Fatima, deren Familie am Nachmittag aus Casablanca kommen und sie zu sich holen will. „Die Moschee und die Medina sind doch das Herz des Landes, unsere Identität“, sagt sie und weint. Auch einige ihrer Nachbarn sind unter den Vermissten.
100.000 Kinder betroffen
Der Einsatzleiter eines britischen Hilfstrupps warnte im britischen Sender BBC derweil vor dem steigenden Risiko von Krankheiten, wenn sich die Hilfe weiter verzögere. Laut UN-Kinderhilfswerks Unicef sind etwa 100.000 Kinder von der Katastrophe betroffen.
Die marokkanische Regierung steht unter wachsendem Druck, mehr internationale Hilfe ins Land zu lassen. Bisher hat Marokko nur aus vier Ländern Hilfstrupps akzeptiert: aus Spanien, Großbritannien, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Gerechtfertigt wurde das damit, dass es zu chaotisch wäre, wenn Teams aus aller Welt in Marokko eintreffen würden. Auch Deutschland bot erneut Hilfe an. Bislang zeigte Rabat daran jedoch kein Interesse. (mit dpa)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?
Argentiniens Präsident Javier Milei
Schnell zum Italiener gemacht
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier