Yves Ravey „Taormina“ Kurzroman: Fahrerflucht in Strandnähe
Ein Paar versucht mit einem Urlaub seine Beziehung zu kitten. Es ist ein beklemmender Ausflug in das Innenleben eines notorischen Vermeiders.
Schon auf der ersten Seite wird deutlich, dass dieser Urlaub unter keinem guten Stern steht. In wenigen Sätzen umreißt der Ich-Erzähler eine Szene: Ein Paar im Auto, schweigend. Er fährt, während sie im Sizilien-Reiseführer liest. Kurz vor der Trennung habe das Paar gestanden, erfahren wir, und dass der Erzähler große Hoffnungen in den gemeinsamen Urlaub setzt.
Yves Ravey: „Taormina“. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind Verlag, München 2023, 112 S., 20 Euro
Dem Wunsch seiner Frau Luisa gehorchend, die gleich nach Ankunft das Meer sehen will, fährt er von der Autobahn ab und gerät auf eine unwegsame Schotterpiste. Bei der Rückkehr ist es schon dunkel; und als der Wagen plötzlich mit etwas kollidiert, hält der Fahrer kurz an, fährt aber dann weiter – trotz der Einwände Luisas, die umkehren möchte.
Es ist nicht ganz leicht, die Handlungsweise des Ich-Erzählers nachzuvollziehen; vor allem, da wir am Anfang noch so wenig über das Paar wissen. Im Folgenden jedenfalls unternimmt er alles, um zu verhindern, dass er mit jenem mysteriösen Rums – es könnte ein Hund gewesen sein, mutmaßt die Frau – in Verbindung gebracht wird, und fährt gleich wieder ab von der Autobahn, um nicht bei einer Kontrolle angehalten zu werden.
Unfall mit Fahrerflucht
Da es nun schon Nacht ist, übernachtet das Paar im Auto und kommt einen Tag zu spät im Hotel an. Dort findet sich ein Kellner, der bereit ist, eine Werkstatt ausfindig zu machen, die keine Fragen stellt. Am folgenden Tag liest Luisa in der Zeitung über einen tödlichen Unfall mit Fahrerflucht: Ein Kind von in Strandnähe zeltenden Migranten ist im Dunkeln überfahren worden. Und wie sich zeigen wird, ist die Polizei dem flüchtigen Täter schon auf der Spur …
Es ist ein beklemmender Ausflug in das Innenleben eines notorischen Vermeiders, den Yves Ravey uns mit diesem Roman erleben lässt. Im Laufe der Handlung runden immer mehr Informationen das Bild des Ich-Erzählers ab, der offenbar vom Geld seiner Frau lebt; denn Luisa ist in leitender Stellung tätig und stammt außerdem aus reichem Elternhaus.
Der Erzähler selbst ist nicht nur arbeitslos, sondern scheint regelrecht arbeitsscheu zu sein. Nun im Urlaub aber versucht er umso verzweifelter, der Gattin zu zeigen, dass er alles unter Kontrolle hat. Dabei kennt er keinerlei moralische Skrupel.
Atemberaubend beklemmend
Die Atmosphäre dieses Kurzromans, der vor unterdrückter Spannung fast platzt, ist atemberaubend beklemmend. Die narrative Binnenlogik allerdings scheint nicht immer ganz schlüssig: Hätte das Lektorat einen Continuity-Check vorgenommen, hätte zum Beispiel jemandem auffallen müssen, dass der Erzähler, der des Italienischen nur rudimentär mächtig ist, keineswegs in der Lage sein dürfte, ein aus einem Versteck heraus belauschtes Gespräch unter sizilianischen Polizisten zu verstehen.
Auch das passive Verhalten der Frau hat ein muffiges 50er-Jahre-Flair und passt nicht wirklich zur skizzierten Ehesituation. Aber solche Anforderungen an realistische Erzählweisen beiseitegelassen, ist die Noir-Anmutung des Settings sehr eindrucksvoll. Der Übergang zwischen Unrecht und Verbrechen, führt der Autor vor, kann ungemein fließend sein. Und vor der atemberaubenden Szenerie Siziliens, die regelmäßig erzählerisch ins Bild gerückt wird, nimmt das Kriminelle sich ja immer besonders schön finster aus.
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