Geschichte des Italo Disco: Dolce Disco
Ausgerechnet in Deutschland prägte man den Begriff des Italo Disco. Ein Blick in die Geschichte eines Genres, das sich in keine Schublade quetschen lässt.
Im Jahr 2001 hat Alexander Arpeggio eine echte Offenbarung. Der damals 18-Jährige aus Ingolstadt hört zum ersten Mal ein Mixtape des niederländischen DJs I-F: „Die Musik klang super melodiös, aber auch repetitiv. Drummachines habe ich da erstmals klar wahrgenommen. Die Synthesizer wirkten nicht glattpoliert, sondern rau. Faszinierend war vor allem, dass die Songs edgy klangen. Im Unperfekten lag ihr Reiz – vom Gesang in gebrochenem Englisch bis zur mangelhaften Aussteuerung.“
Arpeggio will mehr von dieser Musik wissen. Er recherchiert im Netz, landet auf einer Fanpage und findet dort einen Song aus dem Mixtape wieder: „Take a Chance“ von Mr. Flagio. Als Genre steht da: Italo Disco.
Heute ist Alexander Arpeggio selbst DJ und lebt als Produzent und Labelmacher von Mond Musik/Eine Welt inzwischen in Berlin. Und, er ist Teil einer lebendigen, international vernetzten (eher nordeuropäischen) Szene, für die Italo Disco als zentraler Einfluss dient. Der Musikstil, der in der ersten Hälfte der 1980er Jahre in Italien entstand, polarisiert seit jeher: Gilt er den einen als camper Geniestreich, ist er für die anderen purer Kitsch.
Italo Boot Mixe von ZYX
„Doch Italo Disco ist nicht gleich Italo Disco“, präzisiert Arpeggio mit Nachdruck. Und macht damit deutlich, dass hinter dem berüchtigten Begriff, der einst von der hessischen Plattenfirma ZYX zur Vermarktung italienischer Dance-Produktionen in Deutschland geprägt wurde, ein höchst fragmentarischer Kanon steckt: Seine Spannbreite reicht von Mainstream-Hits bis zum obskursten Underground, vom Cheesy-Naiven bis zum düsteren Auskehrsong.
Im Zuge seiner Recherchen stieß Arpeggio auch auf Radio Stad Den Haag, ein holländisches Online-Radio, das nonstop Italo Disco spielt. Hier lernte er viele weitere Songs kennen und kaufte sie dann bei italienischen eBay-Händlern. Als er 2004 mit dem Auflegen begann, habe das Publikum in Oberbayern den Sound eher abgelehnt. „Selbst in Berlin war die Szene teilweise gegen Italo Disco, weil es als Pop und Trash galt.“
Trotzdem habe es weiterhin punktuell Undergroundpartys gegeben, auf denen man sich vernetzen konnte. Die voranschreitende Digitalisierung lieferte den entscheidenden Schub. Um 2010 entstanden die ersten einschlägigen Reissue-Labels, Clubnächte fanden ab dann in mehreren deutschen Städten statt.
Obskure Seitenlinien
„Berlins italophile Szene ist heute eher zersplittert. Jede*r hat einen eigenen Schwerpunkt“, erklärt Arpeggio. An seinen DJ-Abenden, unter anderem bei der von ihm kuratierten Partyreihe „Club Cosmic“ im Neuköllner Sameheads, fördert er eher die obskuren Seitenlinien von Italo Disco zutage, stets vermischt mit anderen experimentellen Einflüssen von elektronischem Dancefloor.
Bei neuen Produktionen seines Labels Eine Welt ist der Italo-Bezug eher indirekt: „Uns geht es darum, den LoFi-Klangcharakter in die Gegenwart zu bringen. Deshalb arbeiten wir mit alter Hardware.“ Am Charmantesten sei diese fehlerhafte Soundqualität für Arpeggio durch den 1991 veröffentlichten Track „All Is Roses“ von Sebastiano Pio verkörpert, Spät-Italosound, in dem auch Punk, Pop und Disco-Elemente verwoben sind: „Mir vermittelt er dezente Melancholie und zugleich wirkt er upliftend.“
Für den italienischen Journalisten Fabio De Luca zeichnet genau jener melancholische Unterton Italo Disco aus. Dieser rühre von der europäischen New Wave her. Denn genau darin, und nicht in der US-Disco, liege etwas kontraintuitiv die Hauptinspiration für die Musik. Für ihre Entstehung war ein technologischer Umbruch entscheidend: Synthesizer wie der Juno und Drummachines wie die TR-808 des japanischen Unternehmens Roland wurden um 1980 erschwinglich.
Primitiv, chaotisch, postpunkig
Eine junge Generation von Produzent*innen, – meist ohne klassische Musikausbildung –, begann mit den analogen Geräten den Sound von britischen Bands wie The Human League, Yazoo und Eurythmics in kleinen Studios nachzuahmen – „primitiv, chaotisch, postpunk im wörtlichen Sinne“, bringt es De Luca auf den Punkt. Er ist der Meinung, dass Handwerk und Zufallsfaktor Italo Disco ausmachen.
Die Ehe mit dem Dancefloor ergab sich aus einer praktischen Notwendigkeit. „Im Umgang mit elektronischen Geräten war es am einfachsten, mit einer rhythmischen Struktur anzufangen“, erklärt De Luca. Der metronomisch pulsierende Sound kam dabei wie gerufen, litten doch die Tanzflächen um 1980 unter dem Popularitätsschwund von US-Disco. Den bevorzugten Verbreitungskanal von Italo Disco bildeten Privatradiosender, die damals in Italien wie Pilze aus dem Boden sprossen. 1983 verhalfen sie dem Song „Vamos a la playa“ des Duos Righeira zum Sommerhit.
Dem Lied, das auf Spanisch einen Besuch an einem radioaktiv verseuchten Strand thematisiert, hat De Luca gerade ein Buch gewidmet. Unabhängige Labels spezialisiert auf den Synthetiksound, hauten quasi über Nacht neue Platten raus. Mailand wurde zum Epizentrum, hier hatten Labels wie Discomagic und Il Discotto ihren Sitz. Um Profite zu maximieren, setzten sie gerne glamouröse Frontfiguren ein, die nicht selber sangen. Dabei wurden Frauen oft übermäßig sexualisiert, etwa auf Plattencovern und in Songtexten, und auf Eyecatcher und Ghoststimmen reduziert. In der Regel traten sie nur als Sängerinnen auf, während die kompositorische Rolle eher Männern vorbehalten blieb.
Postfordistisches Projekt
„Ab Mitte der 1980er wurden Silvio Berlusconis Privat-TV-Sender zum Werbeträger für Italo Disco, was den Musikstil in eine Art Hit-Fabrik, ja gar in ein fordistisches Projekt verwandelte“, sagt De Luca. Der Konsumismus resonierte in einer Gesellschaft, die erschöpft aus den sogenannten bleiernen Jahren hervorgegangen war. Nach dem faschistischen Anschlag auf der Mailänder Piazza Fontana von 1969, waren die Siebziger in Italien gekennzeichnet durch brutale terroristische Anschläge von links und rechts. Radikalisierung und Gewalt waren verbreitet, aber es herrschte auch Aufbruchstimmung.
Zur Politikverdrossenheit, die in den 1980ern Fuß fasste, eignete sich laut De Luca Italo Disco als perfekter Soundtrack, denn mit seiner Inhaltsleere bediente der Stil die Sehnsucht nach Unbeschwertheit. In seiner schrillen Ästhetik mutet Italo Disco dabei oft „camp“ an, als würde es hegemoniale Geschmacksnormen herausfordern. Ein politisch subversives Zeichen liest De Luca darin aber nicht. Die Abwesenheit jeglicher sozialkritischer Botschaften war für die Gatekeeper der Hochkultur wiederum der Grund, Italo Disco als Musik zweiter Klasse zu verteufeln.
Zu denjenigen, die in den Achtzigern Italo Disco verabscheuten, zählt auch Daniele Baldelli. Paradoxerweise wird der heute 71-jährige DJ im Ausland oft ausgerechnet mit diesem Musikstil in Verbindung gebracht – was ihn verärgert. Denn der Cosmic-Sound, den Baldelli während seiner jahrelangen Residency in der Diskothek Cosmic in Lazise am Gardasee prägte und sogar bis nach München strahlte, war eigentlich durch radikalen Eklektizismus und dementsprechend virtuoses Mixen gekennzeichnet. „Ich vermischte diverse Genres, wie Funk, Reggae, Rock, Electro, Afrobeat – und Italo Disco, aber ohne es zu wissen“, scherzt er.
Chinesische Rache
In seinem Portfolio waren tatsächlich Stücke, die heute als Italo-Disco-Meilensteine gelten, zum Beispiel „Chinese Revenge“ von Koto und „Cybernetic Love“ von Casco. „Für mich war das schlicht elektronische Musik. Den Begriff Italo Disco verband ich damals mit einer schlechten Imitation von US-Sound – und mit der Hitparade“, erklärt Baldelli der taz. Er habe hingegen schon immer einen Hang für Produktionen abseits des Mainstreams gepflegt. Durch den Italo-Hype der letzten Jahre hat seine Berührungsangst inzwischen nachgelassen: „Ich habe sogar Einiges in meiner Sammlung entdeckt, von dem ich gar nicht wusste, es überhaupt zu besitzen.“
Die italienische Musikerin, Komponistin, Sängerin und DJ Andrea Noce musste erst nach Berlin ziehen, „um Italo Disco wirklich kennenzulernen“. In Italien hat sie mit dem Musikmachen angefangen, nach ihrem Umzug nach Berlin wird sie Teil der florierende Nu-Disco-Szene, die maßgeblich von Italo Disco beeinflusst ist.
Sie besucht Clubs wie Sameheads, die queere Partyreihe „Cocktail D’Amore“ und die Raves des Kreuzberger Plattenladens Sound Metaphors: „Dort bekam ich das Gefühl, dass man sich vom harten Technodiktat der Stadt abgrenzt. Als Zeichen, dass es mehr gibt als nur das Berghain. Diese Musik ist fluider.'“
Weltraum statt Dolce Vita
Noce kommt mit einer Spielart von Italo Disco in Kontakt, in der statt Strandurlaub und „la dolce vita“-Klischees Weltraum-Motive überwiegen: psychedelisch und halluzinatorisch anmutende Klänge, per Vocoder verfremdete Stimmen und Songtexte, die von Robotern und Aliens handeln. „Diese Space-Ecke bricht meist mit dem Machismo, der in Italo Disco sonst zur Schau gestellt wird“, merkt Noce an. Die Klangwelt inspiriert die Künstlerin dazu, ihr Alias Eva Geist zu kreieren.
Unter diesem Namen tritt sie als Sängerin und DJ in Clubs auf und prägt die Italo-Szene der Gegenwart mit. Inzwischen hat sich daraus ein Projekt entwickelt, das experimentelle Elektronik, obskure Italo Disco- und Krautrock-Einflüsse vermischt.
Heute lebt Noce in Rom und beobachtet, dass der Verdienst von Italo Disco trotz Achtziger-Revival zu Hause kaum anerkannt wird. „Selbst Platten, die im Ausland durch die Decke gingen, wie etwa ‚Spacer Woman‘ von Charlie und ‚Musica Spaziale‘ von Patrizia Pellegrino finden in Italien kaum Beachtung.“ Dabei habe Italo Disco einen unbestreitbaren Wert, meint die Künstlerin: „Er führte eine eigene Klangsprache ein und erneuerte Pop dadurch von innen.“ Eine Innovationskraft, die wiederum auch House und Techno beeinflusst hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Obergrenze für Imbissbuden
Kein Döner ist illegal
Wahl in den USA
Sie wussten, was sie tun
SPD nach Ampel-Aus
Alles auf Olaf
Streitgespräch über den Osten
Was war die DDR?
CO₂-Fußabdruck von Superreichen
Immer mehr Privatjets unterwegs
Regierungskrise in Deutschland
Ampel kaputt!