Erinnerung an die „Göttinger Sieben“: Gedanklicher Denkmalsturz
Sieben Professoren der Uni Göttingen begehrten vor 185 Jahren gegen ihren König auf. Christiane Möbus hat ihnen ein Denkmal gesetzt.
Tritt man in Hannover zur City-Seite aus dem Bahnhof heraus, landet man auf dem Ernst-August-Platz. Dort steht im Zentrum, wenig verwunderlich, wenngleich zugemüllt von Kiosken, Sonnenschirmen und anderen sogenannten fliegenden Bauten, ein Reiterstandbild des Namensgebers.
Nein, es gilt nicht dem als Prügel- oder Pinkelprinzen bekannten derzeitigen Oberhaupt der Welfen, sondern seinem Ahnherrn Ernst August I (1771–1851). Dieser Mann, mit komplettem Titel Herzog von Braunschweig-Lüneburg, Duke of Cumberland and Teviotdale und Earl of Armagh, war ein britischer Prinz aus dem Hause Hannover und wurde 1837, mit 66 Jahren, König von Hannover.
Dieser Landesvater war reaktionär. Obwohl er ab 1786 sogar in der Obhut des Freigeistes Georg Christoph Lichtenberg kurzzeitig an der Universität Göttingen studiert hatte, blieb Ernst August von stockkonservativem Gedankengut beseelt. Seine erste Amtshandlung bestand dann darin, das recht freiheitliche Staatsgrundgesetz wieder zu kassieren: eine Art Verfassung des Königreichs Hannover, das sein Amtsvorgänger erst 1833 erlassen hatte.
Dagegen protestierten sieben Professoren der Universität Göttingen, unter ihnen die beiden Sprachforscher und Märchensammler Jacob und Wilhelm Grimm. Sie teilten mit (und ließen publizieren), sich weiterhin einzig an ihren auf das Staatsgrundgesetz geleisteten Eid gebunden zu fühlen. Alle „Göttinger Sieben“, in den Augen des Herrschers „Federvieh der Tintenkleckser“, wurden ihrer Ämter enthoben, drei des Landes verwiesen. Sie kehrten, meist andernorts, in akademische Würden zurück.
Protest gegen Backlash
Es dauerte dann rund 130 Jahre, bis sich im jungen Bundesland Niedersachsen wie in dessen Hauptstadt die Idee eines Denkmals für die Göttinger Sieben, immerhin ja ehrenwerte Vorkämpfer einer deutschen Demokratie, in den Köpfen verankerte. Als Standort eines, dann gleich zum „Landesdenkmal“ oder „Niedersachsen-Wahrzeichen“ erhobenen Monuments wurde ein Platz direkt neben dem Landtag in Hannover ins Auge gefasst.
Dazu musste allerdings ein kaum kriegsbeschädigtes Bauwerk zur Regulierung der Leine, dem örtlichen Wasserlauf, abgebrochen werden: die „Flusswasserkunst“ – was unter heftigem Protest der Bevölkerung geschah. Ironie der Geschichte: Der Platz musste während anschließender U-Bahn- und sonstiger Tiefbaumaßnahmen in der Innenstadt dann ausgerechnet dem Ernst August gewidmeten Reiterstandbild Asyl bieten.
Richtig Fahrt nahm die Idee eines Denkmals für die Göttinger Sieben erst im Vorfeld der „Expo 2000“ auf; unter 30 eingeladen Künstler:innen wurde 1993 ein internationaler Wettbewerb abgehalten. Die Jury, vornehmlich aus Politiker:innen, entschied sich für eine Art barocke Bühnenszenerie mit naturalistischen, übermenschlich großen Bronzeplastiken des italienischen Kirchenbildhauers Floriano Bodini. Sie wurde 1998 fertiggestellt und präsentiert sich seitdem als der Aufgabe nicht gewachsen.
Von all dem war man in Göttingen, dem eigentlichen Ort des Wirkens der Sieben, nicht angetan. Eine von mehreren lokalen Abhilfen bestand 2011 in der Spende eines Denkmals für den zentralen Uni-Campus durch den örtlichen Verleger anspruchsvoller Kunst- und Literaturbände, Gerhard Steidl. Da er auch die Weltrechte am Werk von Günter Grass hält, wurde dieser als Bildhauer tätig. Sein großes G, verschlungen mit der Ziffer 7, beides in vorkorrodiertem, dickem Stahlblech gefertigt, vermag in seiner Reduktion ebenfalls nicht recht zu überzeugen – zudem führen Assoziationen zum Industrienationen-Zusammenschluss G7 in die Irre.
2013 traten neuerlich private Spender auf den Plan, dazu die Stiftung Niedersachsen, die laut ihrem Leitbild „kritische Reflexionen einer vielfältigen Gesellschaft“ fördert. Man entsann sich eines Beitrags der Hannoveraner Bildhauerin Christiane Möbus aus dem Wettbewerb von 1993. Ihre Idee war so einfach wie überzeugend gewesen und ließ sich perfekt nach Göttingen bringen: eine exakte Replik des Sockels des Ernst-August-Denkmals vom Hannoveraner Bahnhofsplatz, gar im Material aus dem historischen Steinbruch, nun aber vor dem Göttinger Bahnhof. Das ganze versehen mit der alternativen Widmung der Göttinger Sieben an den Landesvater plus Möbus’ eigenem Namen – aber, und das ist der Clou: ohne Pferd oder reitenden Herrscher.
Natürlich provozierte dieser Vorschlag allerlei Bedenken, besonders dass die Künstlerin sich als Achte zu den Göttinger Sieben zu gesellen ermächtigte, wurde als Anmaßung oder Hybris gesehen. Und doch genehmigte der kommunale Ausschuss für Kultur und Wissenschaft 2014 die Annahme der Schenkung, und im November 2015 wurde das Denkmal selbst übergeben.
Relevanz stabil
Nun müssen Denkmäler immer wieder ihren gedanklichen Bestand in der Gegenwart beweisen: Wie weit ist das Ereignis, an das sie erinnern, eines Gedenkens weiterhin würdig? Und vor allem: wie gesellschaftlich relevant? Das scheint beim Göttinger Denkmal in mehrfacher Hinsicht gegeben. Demokratie und auch die Freiheit der Wissenschaften sind ja keine Selbstläufer; sie fordern, wie aktuell weltweit Beispiele zeigen, immer wieder den Mut persönlichen, mitunter existenziellen Risikos.
So initiiert Möbus’ subtiler und vollkommen gewaltfreier Denkmalsturz, besonders auch in seiner beiläufig peripheren Positionierung auf dem Göttinger Bahnhofsplatz, den Dialog über eine räumliche wie historische Distanz, zu den Grundfesten der Demokratie, gar mit feministischer Pointe. Und: Die Kunst als eine Disziplin des Denkens vermag sehr wohl anderes zu liefern als Fragwürdigkeiten im öffentlichen Raum.
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