100 Jahre Wisent-Schutz: Das Wildrind ist noch da

Am 25. August 1923 gründete sich die „Internationale Gesellschaft zur Erhaltung des Wisents“. Wild und frei leben können sie heute im Kaukasus.

Wisent im Wald

Eines der ersten ausgewilderten Wisente in Wittgenstein im Süden NRWs im April 2013 Foto: imagebroker/imago

BERLIN taz | Sie sind noch da. Wenn das mal keine Nachricht ist – denn vor 100 Jahren sah es um Bos Bonasus übel aus. In der Natur war der Wisent beinahe ganz verschwunden, da gründete sich in Berlin die Gesellschaft zur Erhaltung des Wisents, am 25./26. August 1923. Ihren Sitz nahm sie in Frankfurt am Main, erster Vorsitzender wurde der Direktor des dortigen Zoos, Kurt Priemel.

Wie stets, stellten auch hier die Anstrengungen für den Erhalt einer Tierart den Endpunkt eines Vernichtungsfeldzugs dar: Jahrhundertelang hatte man das europäische Wildrind gejagt, es als lebende Fleischreserve der über den Kontinent ziehenden Armeen betrachtet und seinen Lebensraum – den Wald – zerstört.

Etwa 800 nach Christus war der Wisent westlich des Rheins ausgerottet, 200 Jahre später westlich der Elbe; 1364 soll der letzte wilde Wisent westlich der Weichsel erlegt worden sein. In Osteuropa und im Kaukasus hielten sich die Tiere länger, doch auch hier wurden die letzten Wildrinder im Laufe der 1920er Jahre getötet. Die Art überlebte in Zoos.

1922 hatte Zoodirektor Priemel damit begonnen, die in Tiergärten lebenden Wisente zu erfassen. Er zählte insgesamt 56 Tiere, 29 Kühe, 27 Stiere und 10 Kälber. 12 von ihnen waren nicht miteinander verwandt und daher geeignet, die Basis für ein Zuchtprogramm zur Rettung des europäischen Wisents zu bilden. Inzwischen ist der Bestand des größten europäischen Landsäugetieres wieder auf rund 7.200 Tiere gewachsen. Etwa ein Viertel davon lebt in Zoos.

Wiederansiedlung im Kaukasus

Diese Wisente verfügen über lückenlose Stammbäume, auf die der langjährige Zuchtbuchleiter Douglas Richardson zurückgreift, um „fundierte Paarungsentscheidungen zu treffen, um die selteneren Grün­der­linien zu betonen“. Der Biologe leitete den Highland Wildlife Park in Schottland, als ihm 2012 der Europäische Zooverband das Zuchtbuch übertrug – „das war ein sehr stolzer Tag für mich“, sagt der Schotte.

Seine Aufgabe ist es, durch Zuchtauswahl die schmale genetische Basis der Wisente möglichst wieder zu verbreitern. Die Ausgangslage von nur 5 Stieren und 7 Kühen sei nicht ideal gewesen, trotzdem könne die Art heute „als relativ sicher und geschützt angesehen werden“, sagt Richardson. Es bleibe abzuwarten, ob man in Zukunft „in der Lage sein werde, mithilfe von DNA aus Museums­exemplaren“ zu arbeiten und so mehr neues Erbgut einzubringen.

Als Krönung ihrer Zuchtbemühungen sehen es Zoos an, wenn sie Tiere in die Freiheit entlassen können. Im Berliner Tierpark sammeln sich derzeit 10 Zoo-Wisente aus ganz Europa, um im November im Rahmen eines Wiederansiedlungsprojekts von Zoos und den Naturschutzverbänden WWF und Berlin World Wild per Flugzeug nach Aserbeidschan zu fliegen. Nach einem Winter in einem Vorbereitungsgehege werden sie im kommenden Frühling entlassen, um in der Kernzone des Shahdag-Nationalparks im Norden des Landes zu leben.

Ausbreitung der Wisente

Inzwischen grasen dort wieder 48 Wisente, 7 Kälber wurden in diesem Jahr in Freiheit geboren. „Unsere regelmäßigen Monitoringmaßnahmen, die etwa den Gesundheitszustand und die Bestandentwicklung umfassen, zeigen, dass sich die Tiere sehr gut an den Lebensraum im Nationalpark gewöhnt haben“, sagt Aurel Heidelberg, Referent Ökoregion Kaukasus beim WWF. Bis 2028 sollen mindestens 100 Wisente im Nationalpark leben.

Während die Zoos auch in Westeuropa die Wisente als Art mit großem Aufwand erhalten und auswildern, ist die Skepsis groß, wenn sich die Tiere von allein auf den Weg machen – und zwar in umgekehrte Richtung. In Polen hat sich der Bestand der Wildrinder dank intensiver und langjähriger Schutzbemühungen inzwischen nämlich so weit erholt, dass sie sich nach Westen ausbreiten und alte Lebensräume wieder besiedeln – nach dem Vorbild des Wolfs, gemeinsam mit dem Elch.

Rund 2.000 Wisente lebten wild und ohne nennenswerte Probleme mit der Bevölkerung in ganz Polen, berichtet Aleksandra Smaga von der Westpommerschen Naturgesellschaft in Jabłonowo. Etwa 350 Tiere haben sich auf den Weg nach Westen gemacht und streifen in kleinen Herden durch das Land, bis etwa 35 Kilometer vor die Grenzstadt Stettin sind sie inzwischen gekommen. „Eine Herde besteht aus wenigen, meist drei Tieren“, sagt Smaga, „es ist eine Frage von einigen Jahren, bis sie nach Deutschland wandern“.

Immer Ärger in Wittgenstein

Ein junger Bulle, der sich vor 5 Jahren über die Oder traute, wurde nach wenigen Tagen in Brandenburg geschossen. Die Vorbehalte gegen die großen Wiederkäuer kann Smaga nicht nachvollziehen. „Wisente sind in Polen Staatseigentum; wenn sie Schäden etwa auf Äckern anrichten, entschädigt der Staat die Landwirte.“ Außerdem tragen die Rinder Halsbänder und können geortet werden. „Wenn sie sich Siedlungen nähern, vertreiben wir sie von dort, das funktioniert gut“, sagt Smaga.

Auch in Deutschland und anderen mitteleuropäischen Ländern wäre Platz für wilde Wisente, das haben Lebensraumstudien etwa des Geographischen Instituts der Berliner Humboldt-Universität gezeigt. Eine „realistische und dauerhafte Rückkehr“ hänge aber primär davon ab, „ob wir es schaffen, die Akzeptanz in der breiten Gesellschaft, aber vor allem bei Waldbesitzern und anderen Landnutzern, zu gewinnen“, sagt Aurel Heidelberg.

Dort, wo seit zehn Jahren eine Wisentherde wild lebt, ist diese Akzeptanz ausbaufähig. Im Kreis Siegen-Wittgenstein in Nordrhein-Westfalen steht das vielbeachtete Freisetzungsprojekt des Vereins „Wisent-Welt“ nach heftigem Streit mit Waldbauern und jahrelangen Gerichtsprozessen vor einem Scherbenhaufen.

Eigentlich sollte ein Dialogverfahren, das von den ehemaligen NRW-Umweltminister:innen Ursula Heinen-Esser (CDU) und Johannes Remmel (Grüne) moderiert wird, im September Lösungen für die verfahrene Situation vorstellen. Mitte August stellte der Trägerverein allerdings einen Insolvenzantrag. Was das für das Dialogverfahren bedeutet, ist unklar. Dabei – wäre das nicht schön? Dass die Wisente in Europa vor 100 Jahren gerettet worden wären, um zu bleiben.

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