Roman über den Bosnienkrieg: Pornohefte für Blauhelme
In „Radio Sarajevo“ schreibt Autor Tijan Sila aus der Sicht des Neunjährigen über Verrohung, Verrat und wie der Krieg seine normale Kindheit beendete.
Warum? So lautet die einfachste und unzählige Male wiederholte Frage nach den Ursachen des Kriegs. Im Fall des Bosnienkriegs der 1990er Jahre wird bei Gesprächen in Deutschland nach wie vor viel Schulter gezuckt.
Hier und da wird mit ein bisschen Halbwissen über Arbeiterselbstverwaltung hantiert, ein Zoran hier, eine Aida da zitiert und am Ende immer ein Roman empfohlen: Autor leider entfallen, irgendwas mit ić, aber ganz toll, unbedingt lesen!
Diese Gespräche sind naturgemäß immer unbefriedigend. Es sei denn, man hat den empfohlenen Roman noch nicht gelesen, was sich meistens lohnt. Für zukünftige Gespräche lässt sich ab jetzt ein neues Buch in die Empfehlungsliste aufnehmen: „Radio Sarajevo“ von Tijan Sila.
„Radio Sarajevo“ ist das vierte Buch des deutschen Schriftstellers, der 1981 in Sarajevo geboren wurde. Es ist eine literarisch verdichtete autobiografische Erzählung über die Jahre zwischen dem Kriegsausbruch in Sarajevo 1992 und der Flucht der Familie Sila nach Deutschland 1994.
Draußen spielen – lebensgefährlich
Sila ist Sohn von Akademikern und als solcher der Einzige unter den Jungs, die auf dem Basketballplatz und den Straßen seines Wohnviertels trotzdem von den Arbeiterkindern akzeptiert ist. Der Beginn des Kriegs beendet diese normale Kindheit in den Straßen Sarajevos jäh. Draußen zu spielen, ist jetzt lebensgefährlich. Was bleibt, ist – so lange es noch Strom und Batterien gibt – auf dem Klo, wo die gesamte Familie aus Sicherheitsgründen schläft, Comics zu lesen.
Bald schon geht das Essen aus. Doch dem Neunjährigen erscheint viel bedrohlicher, dass die Batterien aus sind. Und so erfahren wir wesentlich mehr darüber, wie er es geschafft hat, in der belagerten Stadt an Batterien zu kommen als darüber, wie seine Eltern es schafften, etwas zum Essen zu organisieren.
Innerhalb weniger Wochen ist Silas Viertel nicht mehr wiederzuerkennen: Auf dem Basketballplatz zieht eine ewige Rauchschwade aus dem immer größer werdenden Müllberg, auf dem leeren Autobatterien brennen, mit denen Strom gemacht wurde. Mit seinen Freunden pirscht er durch ausgebrannte Autowracks, Kiosks oder Gebäudeteile, auf der Suche nach Pornoheften, die sie bei den UN-Soldaten gegen Essbares oder Bargeld eintauschen können.
Eine ältere Jungsclique bietet den UN-Soldaten irgendwann auch echte Mädchen an und fleddert das Tagebuch einer geflohenen Mitschülerin, und plötzlich sprechen auch Silas engste Freunde Sead und Rafik nur noch von „Titten“, onanieren in Autowracks, schnüffeln Klebstoff in Plastiktüten und werfen ihrem Freund vor, ein Verräter zu sein, weil er dabei nicht mitmacht.
Lieber Schule statt über Schwänze reden
Der Erzähler ist enttäuscht, verletzt, traurig über die Entfremdung von den Freunden, aber vor der Verrohung, die seine Spielkameraden durchmachen, schreckt er zurück, geht lieber wieder zur Schule, anstatt zu schwänzen und über Schwänze zu reden.
Verrohung und Verrat ziehen sich als Motive durch die ganze Erzählung. Der Vorwurf Verräter trifft viele, einerseits Sila selbst, andererseits empfindet auch er andere als Verräter, zum Beispiel die Freunde, die aus der Stadt flohen, ohne Bescheid zu sagen und ohne die Alice-Cooper-Kassette zurückzugeben, die man der Schwester stibitzt hatte. Vor der Schwester, die ihrem Bruder den Kopf abschneidet, wenn sie erfährt, dass ihre Alice-Cooper-Kassette weg ist, fürchten sich die Jungs sogar mehr als vor dem täglichen Beschuss durch die serbischen Scharfschützen.
Diejenigen, die die Stadt beschießen, belagern und also dafür verantwortlich sind, dass das Leben des Erzählers, seiner Freunde und Familie so verläuft, wie es verlaufen ist, kommen nie konkret vor. Sie haben keine Namen, werden nicht thematisiert, sind nur indirekt anwesend, als beispielsweise junge Mädchen mit leeren Blicken auftauchen, von denen einer erzählt, dass sie vergewaltigt worden sind.
Zwar stellt der Autor nackte Gewalt dar. Scharf wie eine gute Fotografie beschreibt er die Momente, in denen er selbst sieht, wie jemand am Hals getroffen vor seinen Augen verblutet, wie er selbst von einer Kugel an der Wade gestreift wird. Aber die Frage nach dem Warum? beantwortet er nicht für alle Seiten, sondern bietet nur Erklärungen für die Seite der Angegriffenen: von tradierten Erziehungsmethoden, von Männlichkeitsbildern, vom Stolz auf den militärischen Sieg der Partisanen, vom Gauner Muhamed, der dank des Kriegs zum Privilegierten wurde, was bedeutete Zugang zu Information, Waffen und Lebensmitteln.
Die Lebenswelt eines Neunjährigen
Groß ist Silas Erzählung aber nicht wegen der Präsenz der Gewalt, sondern weil der Ausschnitt, den er zum Erzählen wählt, klein ist. Es ist das Sarajevoer Plattenbauviertel, in dem er aufgewachsen ist. Es ist die Lebenswelt eines Neunjährigen. Das kleine Setting kann Sila so fokussieren, dass der Krieg nicht einfach wie eine riesige Wand aus Krach, Blut, zerfetzten Menschen und Brutalität erscheint. Sila schafft es, den Krieg leise zu stellen und ihn damit umso verständlicher zu machen.
Mit den zurückgenommenen Beschreibungen treten die hässlichen, tristen und brutalen Auswirkungen eines Kriegs umso deutlicher hervor. Sila findet die richtige Lautstärke, um das zu Gehör zu bringen, was sonst im Kriegserinnern und unter Kriegserklärern untergeht. Er erzählt nicht von den Massakern, er erinnert nicht die Namen, Psychologien und Schicksale von Schlächtern, Befehlshabern, Politikern und Massakeropfern, sondern die seiner Schulfreunde, seiner Eltern, den Freunden seiner Eltern, seinen Lehrern und Nachbarn.
Vor einigen Jahren wies mich ein Kollege auf Tijan Silas Debüt hin: „Das könnte dich interessieren, der kommt aus Bosnien.“ Meine Antwort lautete: „Schon wieder ein Bosnienroman, puh, ich weiß nicht.“ Als ich dann erfuhr, dass Sila in Kaiserslautern Berufsschullehrer ist (und nicht in Berlin subventionierter Kolumnist) und sein Buch las (es spielt in der Pfalz und nicht in Bosnien), wusste ich es besser, besuchte ihn in K-Town, schrieb ein Porträt über ihn und bin seitdem Fan.
Sila ist ein Autor, der keine Sekunde zu lange bei einer Beschreibung verweilt, es gibt keine barocke Schilderung, in dem uns per Ausführlichkeit die physischen und psychischen Qualen übertragen werden sollen. Vielmehr ist es ein episodenhaftes Erzählen, in der fast jede Szene von schockhafter Kürze und Wirkung ist. Wozu auch das genaue Ohr für die kleinen Geräusche – anwesende wie abwesende – gehört, wie wenn er beispielsweise „das satte Klicken, mit dem ein Objektiv im Gehäuse des Fotoapparats einrastete“ beschreibt: „KLICK, der Klang einer funktionierenden Welt, in der sich alles am Platz befand und elegant seine Rolle erfüllte.“
Schonungslose Härte, Polemik und Witz
Bei aller schonungslosen Härte auch sich selbst gegenüber, lässt Sila es nie an Polemik, Sarkasmus und Witz vermissen. Szenen wie die, in denen die Schüler den Lehrer, der sie schikaniert, mit einem Eimer Pisse übergießen, beendet Sila mit den Worten: „Im Kleinen bewahrheitete sich, was die Belagerung unserer Stadt seit Langem zeigte: In Sarajevo gab es kein Stockholm-Syndrom.“
In Sarajevo, erzählt Sila, habe es immer eine Tradition gegeben, die laute: „Man blieb seinen Kindheitsfreunden und den Menschen des Viertels, mit denen man aufgewachsen war, sein Leben lang verbunden.“ Das sei der Grund, warum sein Vater, obwohl Professor, mit dem Gauner Muhamed immer Kontakt gehalten hatte. Sohn Tijan konnte diese Tradition nicht aufrechterhalten. Der Krieg hatte nicht nur die räumliche Verbindung zum Viertel gekappt, sondern auch die Herzen, Körper und Psychen ihrer Bewohner und ehemaligen Bewohner zerstört.
Sila nimmt diese Tradition nun wieder auf, in dem er seinem Viertel in Sarajevo und seinen Kindheitsfreunden in Form dieses Buchs ein Denkmal setzt. „Radio Sarajevo“ erzählt, dass für Menschen, die einmal Krieg erlebt haben, der Krieg nie endet.
Tijan Sila: „Radio Sarajevo“, Hanser Verlag, 178 Seiten, 22 Euro, erscheint am 21. August
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