Der Weg des Augustinerbiers: Vom Edelstoff zum Trendbier

In den 90ern musste man noch in abgelegene Berliner Gegenden fahren, um es zu kriegen. Wer heute damit unterwegs ist, reiht sich ein.

Das Ettikett einer Bierflasche zeigt einen Mönch

Die Mode der Jungen der vorvorvergangenen Saison: Etikett von Augustinerbräu Lagerbier Hell Foto: Michael Westermann/imago

Gegenstände und Gebräuche, Dinge und Handlungen, die man selbstverständlich, unschuldig, nicht distinktionsorientiert benutzt beziehungsweise vollzogen hat – und die dann plötzlich etwas bedeuten: Los ging das glaube ich mit dem Augustiner.

Ich kann mich nicht erinnern, dass in meiner beobachtenden Kindheit und konsumierenden Jugend die Biermarke irgendeine Rolle gespielt hätte. Wir wählten unsere Lokale nicht nach ihr aus, und wenn wir in einer Augustiner­wirtschaft saßen, dann tranken wir eben das.

Es muss in den 90ern angefangen haben, dass plötzlich alle nur noch Augustiner wollten, auch ich nahm mir jetzt aus München ab und an ein paar Flaschen „Edelstoff“ mit. In Berlin war es da noch einigermaßen kompliziert, an das Getränk zu kommen, man musste Getränkemärkte in dubiosen Gegenden wie Lichterfelde-West aufsuchen. Partys, bei denen man den Gästen ein Augustiner in die Hand drücken konnte, waren beliebt, nicht nur bei der bayrischen Diaspora.

Ein Aufsatz, den ich 2004 für das München-Stadtbuch des Verbrecher-Verlags schrieb, markiert dann schon den Übergang zum allseits und allweil verfügbaren, globalisierten Produkt: „Ubi Augustiner, ibi Monaco“, konnte ich da meine gelegentlichen Anfälle von Heimweh rational- bzw. alkoholisieren. Wenn ein Avantgarde-Verlag so was brachte – und mehr Avantgarde als der Verbrecher-Verlag in den 00er Jahren geht, glaub ich, gar nicht –, dann würden sich bald alle Zapfhähne öffnen.

Das Gegenstück zum „Tannenzäpfle“

In den 10ern tauchte Augustiner tatsächlich in den Spätis auf, als vielleicht nicht ganz so gentrifizierungsorientiertes Westberliner Gegenstück zum baden-württembergischen Ossivertreiberzaubertrank „Tannenzäpfle“ in Mitte und Prenzlauer Berg.

Wer heute mit einer Flasche Augustiner in der Hand in Berlin unterwegs ist, zeichnet sich nicht mehr durch Geschmack oder Stil aus, er reiht sich ein. Als älterer Herr könnte ich in den Verdacht geraten, auf die Mode der Jungen der vorvorvergangenen Saison aufzuspringen, aber glücklicherweise nimmt mich die Jugend eh nicht mehr wahr, weswegen sich Rechtfertigungen, ich hätte dieses Bier schon getrunken, als sie noch alles außer Muttermilch verschmähte, erübrigen.

Ähnlich verhält es sich mit den von mir seit frühester Jugend praktizierten heutigen Trendbeschäftigungen Klettern („Bouldern“), Bergwandern („Hiken“), im Gärtchen hackeln („Urban Gardening“) und Schwammerlsuchen („Waldbaden“). Das Ganze erinnert mich an den Film „Tenet“, wo der Protagonist nicht immer weiß, ob er gerade linear oder zeitinvertiert unterwegs ist: Tue ich gerade etwas vor mich hin, das in 20 Jahren alle geil finden werden? Bin ich meiner Zeit voraus oder hinken die anderen der ihren hinterher?

Zur Erholung von diesem gedanklichen Tatzelwurm brauche ich jetzt erst mal ein Bier: Ich steh gerade auf Flötzinger.

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Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.

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