Nachruf auf Ephraim Steinbock: Sahne heißt Smetana

Unsere Autorin lernte 1993 einen Überlebenden der Blockade von Leningrad kennen. Nun ist Ephraim Moiseewitsch Steinbock, genannt Fred, gestorben.

Efrem Steinbock und Frau Geta sitzen an einem großen Tisch in ihrer Wohnung, er hat den Arm um seine Frau gelegt

Ephraim Moiseewitsch Steinbock oder auch Efrem Shteinbok, wollte Fred genannt werden Foto: privat

Mein Freund Fred ist gestorben, ich bin traurig. Er war 95, er hatte ein schwaches Herz. Und doch hätte ich ihm gewünscht, dass er das Ende des russischen Krieges gegen die Ukraine noch erlebt.

Ulrike, schrieb er vergangenes Jahr wütend, wie konntest Du auch nur eine Sekunde zweifeln, was meine Haltung zur Ukraine sein würde? „I know firsthand what war is.“ Sein Englisch in dieser Mail war so flüssig, er hatte sicherlich eines seiner Enkelkinder herbeizitiert, um mir zu schreiben, wie sehr er Putin verabscheute.

Denn Fred lebte nun zwar seit Jahrzehnten nicht mehr in seiner Heimatstadt Sankt Petersburg, sondern war längst seinen Kindern hinterher erst nach Israel, dann nach Kanada gezogen. Doch sein Englisch blieb bis zum Schluss eine Baustelle aus maximal 200 Wörtern.

Er arbeitete für Russlands erstes Öko-Magazin

Fred hieß eigentlich Ephraim Moiseewitsch Steinbock oder auch Efrem Shteinbok. Doch er wollte Fred genannt werden, als er meinen damaligen Freund und mich 1993 kurzzeitig adoptierte. Wir waren spontan mit dem Zug nach Sankt Petersburg gefahren – so spontan, dass wir erst weit hinter Warschau begriffen, dass wir für den Transit durch Weißrussland ein Visum brauchten, ein Missstand, den wir an der Grenze nur mit hundert Mark pro Kopf beenden konnten.

Fred holte uns am Bahnhof ab. Er war eigentlich schon Rentner, arbeitete aber für Russlands erstes Öko-Magazin, zu dem wir über die taz hamburg (wo ich Praktikantin war) einen Kontakt hergestellt hatten. Fred hatte dort eine Funktion, die sein Englischvokabular nicht zu beschreiben zuließ. Doch uns schwante, dass er sich um alle kümmerte und sie herumkommandierte – denn das war es, was er die folgende Woche mit uns machte, und es war großartig.

Tag für Tag schleifte er uns durch Sankt Petersburg und hämmerte uns die Namen der Baumeister ein. Leider sind mir außer Rastrelli (Eremitage, Smolny-Kloster) alle entfallen. Verzeih, Fred. Nicht vergessen dagegen habe ich: Ein Mann lässt eine Frau nie als Erste aus dem Bus steigen! Leningrad sagt man nicht mehr, das ist nicht witzig! Eine Frau wird nicht mit einer Bierflasche in der Öffentlichkeit gesehen! In jede Pfanne Bratkartoffeln gießen wir einen Becher gute Sahne, und Sahne heißt Smetana!

Die Wehrmacht hatte seine Eltern umgebracht

Fred nahm uns auch mit auf den Friedhof, dort lag seine Familie. Die Wehrmacht hatte seine Eltern umgebracht: Sie waren während der Leningrader Blockade an Unterernährung gestorben, als Fred 13 war. Dass die Deutschen Leningrad zwischen September 1941 und Januar 1944 belagert und so eine Million Menschen ermordet hatten, das hörte ich hier zum ersten Mal. Vieles musste ich später, zu Hause, in Lexika nachlesen. Freds Worte reichten nicht für die Details, durchaus aber dafür, dass ich mich vor Ort in Grund und Boden schämte, so wenig zu wissen.

Wir haben uns nie wiedergesehen. Aber 30 Jahre lang schickten wir uns Fotos hin und her, von seiner Familie, von meiner Familie – das Internet machte das dann leichter. Manchmal rief er an, aus Israel, aus Kanada: „You – are – well?“ Oft sprang seine Frau, auch sie hatte als Kind die Belagerung überlebt, ihm bei: „He wants to say …“

Noch etwas, was erst die Digitalität ermöglichte: Eine christlich-orthodox inspirierte Initiative sammelte Lebensgeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg, übersetzte sie aus dem Russischen und stellte sie ins Netz. Endlich konnte ich Freds ganze Geschichte aus den Belagerungsjahren nachlesen. Eine Kollegin hat sie 2021, zum 80. Jahrestag des Beginns der Leningrader Blockade, in der taz aufgearbeitet.

Jetzt ist Fred tot, sein Sohn schrieb mir die Nachricht. Hoffentlich schickt er mir noch ein paar Fotos.

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Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.

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