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Warten in der SchlangeDu bist nicht allein

Die Warteschlange war schon immer ein Seismograf gesellschaftlicher und privater Verfasstheit. Eine Drängelei durch Geschichte und Wissenschaft.

Für geordnetes Anstehen ist Disziplin vonnöten (hier vor einer Bäckerei in Rostock 1989) Foto: Roland Hartig/imago

Es scheint, dass die Warteschlangen zurückkommen nach Deutschland. Bislang waren sie etwas, woran sich nur die sehr Alten erinnern konnten; die in Westdeutschland Aufgewachsenen kannten höchstens Schwarzweißfotos von Warteschlangen vor Lebensmittelgeschäften nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Wenn es Schlangen gab, dann waren es Luxusschlangen vor besonders angesagten Restaurants oder Clubs – und das Stehen darin war die Bestätigung, die richtige Wahl getroffen zu haben.

Die Schlangen, in denen es um etwas geht, um Essen, um die Frage, wo man lebt, das waren die der Anderen: in der Ausländerbehörde oder bei der Lebensmittelausgabe der Tafeln. Die meisten hat man ins Internet umgeleitet, um Personal zu sparen: Arzttermine, Bahnfahrkarten sind nichts mehr, wofür man sich anstellen müsste. Eigentlich. Zu Coronazeiten sind plötzlich sportplatzlange Schlangen vor den Impfzentren aufgetaucht, die zwei Jahre später spurlos verschwanden.

Andere scheinen zu bleiben: Vor der Hautarztpraxis um die Ecke windet sich morgens eine Schlange von Menschen, die in die offene Sprechstunde kommen, weil die festen Termine so rar sind. Die Schlangen vor den Tafeln sind inzwischen so lang, dass sie selbst denen auffallen, die sich dort nicht anstellen müssen.

Noch sind Warteschlangen für uns das Unerhörte, eine Störung unserer störungsfreien Abläufe, und jedes Unternehmen, das seine Kun­d:in­nen bei Laune halten will, versucht sie zu vermeiden. In den Ländern des Ostblocks hat Warten jahrzehntelang den Alltag bestimmt, vor allem, aber nicht nur den der Frauen, die sich für Lebensmittel einreihten. Diese Schlangen waren ein gefundenes Fressen für US-Soziolog:innen, die dort Anschauungsmaterial fanden für ihre Studien zu Gerechtigkeitsempfinden und den Umgang mit sozialen Normen, das es in den rundum versorgten USA nicht gab.

Was fanden sie heraus? Ein paar Zahlen: Laut einer Umfrage in Polen verbrachten die Frauen dort durchschnittlich 3 Stunden und 37 Minuten pro Tag für ihre Einkäufe. 1982 stellte man fest, dass in der durchschnittlichen Warteschlange 53 Personen standen, 32 Frauen und 21 Männer. Und etwas über Machtstrukturen: Selbst in den Schlangen, in denen nahezu ausschließlich Frauen drängten, machten sich die wenigen Männern zu selbst ernannten Ordnern.

So­zio­lo­g:in­nen lesen die Warteschlange, die in der Regel ohne körperliche Gewalt auskommt, als Beispiel dafür, dass Menschen einen gemeinsamen Gerechtigkeitssinn entwickeln. Es gibt sogar Stimmen, die in der Selbstdisziplin, die für geordnetes Anstehen erforderlich ist, eine Voraussetzung für soziales Leben sehen. Warteschlangen mögen als Reihe gewordene Mangelverwaltung langfristig für soziale Unruhe sorgen – sie selbst sind konservativ und versuchen sich als Struktur zu erhalten. Selbst diejenigen, die sie mit Gewaltandrohung vor Vor­dräng­le­r:in­nen verteidigen, schrecken letztlich vor der Eskalation zurück, um sie nicht zu gefährden.

Kostspieliges Warten

Laut New York Times hat das Warten in den Ländern des Ostblocks nicht unwesentlich zum Bankrott des Systems beigetragen: 30 Billionen Dollar sollen in der Sowjetunion jährlich verloren gegangen sein, weil die Bürger nicht am Arbeitsplatz waren, sondern vor Läden anstanden. Das monatliche Warten, um Miete und Elektrizität zu bezahlen, soll allein in Moskau 20 Millionen Arbeitsstunden gekostet haben. Warteschlangen waren ein so selbstverständlicher Anblick in Ländern wie der Sowjetunion, aber auch Polen und der DDR, dass man dort gleich einen Begriff dafür geprägt hat: so­zialistische Wartegemeinschaft.

Das ist nichts im Vergleich zu den Schlangen in der Sowjet­union zwischen 1939 und 1941, als immer mehr Landbewohner in die Städte kamen. Nach einem Bericht des Volkskommissariats für Binnenhandel versammelten sich 33.000 Menschen in der Nacht vom 13. auf den 14. April 1939 in Moskau vor den Geschäften, in der Nacht auf den 17. April waren es 438.000. Sie kamen mit Geschäftsschluss und harrten bis zum nächsten Morgen aus. Waren Lebensmittel oder Kleider nach drei bis vier Stunden ausverkauft, blieben die Leute bis zur nächsten Lieferung.

Die Menschen schrieben zahllose Briefe an die Obrigkeit, um ihre Notlage zu schildern. Im Februar 1940 wandte sich ein Mann aus Nischni Tagil direkt an Stalin und schrieb: „Josif Wissarionowitsch, es geschieht etwas Schreckliches. Sogar für das Brot muss man sich von zwei Uhr morgens an in einer Schlange anstellen und dort bleiben, um zwei Kilo Roggenbrot zu bekommen. Man beginnt schlechte Gedanken zu haben. Es ist hart, sein Kind hungernd zu sehen.“

Und ein anderer schreibt: „Wenn etwas in einem Geschäft auftaucht, bildet sich sofort eine lange Schlange in der Kälte die ganze Nacht lang: die Mütter mit den Kindern im Arm im Wind, Männer, Alte, bis zu sechs- oder siebentausend Personen. Kurz gesagt, die Menschen sind wie verrückt. Wisst Ihr, Genossen, es ist schrecklich, die tollen und sinnentleerten Gesichter in den allgemeinen Schlägereien zu sehen, um sich mit ich weiß nicht welchem Produkt in den Geschäften zu versorgen. Es ist nicht selten, dass Menschen in der Eile erstickt oder zu Tode geprügelt werden.“

Höhere Preise sollten Schlangen kürzen

Die Obrigkeit hat die Briefe archiviert. Sie hat versucht, den Schlangen ein Ende zu machen und damit den Produk­tionseinbußen. Nicht dadurch, dass sich die Versorgungslage besserte, sondern indem man die Preise erhöhte und die Zuteilungsraten drittelte, um die Nachfrage zu senken. Als das nichts half, wurde in zahlreichen Städten das Schlangestehen verboten. Vor den großen Geschäften standen Polizisten und kontrollierten die Papiere der Einkaufenden. Die Menschen vom Land wurden umgehend zurückgeschickt. Angehörige der Miliz gewöhnten sich an, Schlangen umzudrehen und die vorne Wartenden ans Ende zu verbannen.

Aber es half nichts: Das Volk erfand Camouflagestrategien, um die Warteschlangen aufrechtzuerhalten. Die Teil­neh­me­r:in­nen zerstreuten sich, sobald die Polizei auftauchte, und formierten sich neu, wenn sie verschwand. Sie taten so, als gingen sie spazieren oder warteten auf die Straßenbahn. Die Warteschlangen waren widerständig in ihrer Not und sie verschwanden erst mit dem Einmarsch der Deutschen.

Jahrzehnte später wurde das Nichtwartenmüssen in der Bundesrepublik zum Ausweis der Überlegenheit: Als Staat, der es nicht schafft, seine Bür­ge­r:in­nen unverzüglich mit Autos zu versorgen, muss die DDR zum Scheitern verurteilt sein. Die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ist zum gefühlten Grundrecht aufgestiegen – kein Wunder, dass die Stimmung in den Warteschlangen mies ist.

Vielleicht auch, weil in der Geschichte immer die Machtlosen warten mussten, früher in den Vorzimmern der Mächtigen, heute an den Economy-Schaltern der Fluglinien, während die Business-Kundschaft längst im Flieger sitzt. Unsichtbar, aber allen bewusst klafft neben der Schlange derer, die auf die offene Sprechstunde beim Arzt warten, die Lücke der Privatpatient:innen, die längst einen Termin haben.

So sind die Schlangen viel mehr als das ästhetische Ärgernis aneinandergereihter Gesäße, als die sie ein amerikanischer Soziologe beschrieben hat: Sie sind Seismograf individueller wie auch sozialer Gereiztheit. Oder Entspanntheit, wenn man es positiv deutet.

Die Autorin hat 2014 das Buch „Warten. Erkundungen eines ungeliebten Zustands“ im Ch. Links Verlag veröffentlicht.

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