Drei Jahre nach Explosion in Beirut: Die Stille danach

Vor drei Jahren starb die Tochter von Tracy und Paul Naggear bei der Explosion im Hafen von Beirut. Ihre Eltern kämpfen für die Rechte der Betroffenen.

Rauch über den Hafen von Beirut

Libanons Hauptstadt Beirut im August 2020, kurz nach der Explosion im Hafen Foto: Hussein Malla/AP/dpa

BEIRUT taz | In der Gouraud-Straße im siebten Stock in der Nähe des Hafens von Beirut liegt eine Wohnung voller Erinnerungen. Da gibt es die schönen Erinnerungen an die ersten drei Jahre mit der kleinen Alexandra, wie sie auf einem Stuhl sitzt und sich mit Eiscreme bekleckert. Oder an Alexandra, die neugierig vom Sofa aus ein Kinderprogramm schaut, direkt neben der großen Fensterfront, von der aus man einen guten Blick auf den Hafen der libanesischen Hauptstadt hat. Und dann gibt es die Erinnerung an jenen Augusttag vor drei Jahren, als eine Explosion Alexandra beim Spielen mit sich riss. Sie stand nie wieder auf.

Für die Eltern Tracy und Paul ­Naggear ist seitdem nichts mehr wie zuvor. Alexandra war das jüngste von mehr als 200 Todesopfern der Megaexplosion, die am 4. August 2020 um 18.08 Uhr weite Teile der Stadt zerstörte. Ein von Schweißerarbeiten ausgelöstes Feuer hatte mehrere Hundert Tonnen hochexplosives Ammoniumnitrat zur Explosion gebracht, die in den Getreidesilos des Hafens lagerten. Später sollte die Sprengkraft auf den Vergleichswert von 1.100 Tonnen TNT bemessen werden. Neben den Toten wurden damals Tausende Menschen verletzt, Zehntausende verloren ihr Zuhause.

Richtig gezählt hat das alles allerdings nie jemand – auch deshalb nicht, weil es keinen funktionierenden Staat gibt, der das hätte leisten können. Der Libanon wird von einem System aus Clans und religiösen Gruppierungen wie ein Mafiastaat geführt. Dies erklärt auch, dass bis heute niemand für das menschengemachte Desaster zur Rechenschaft gezogen wurde, weder jene, die das Ammoniumnitrat bestellt hatten, noch jene, die es 2013 lieferten oder die es im Anschluss jahrelang vollkommen unsachgemäß lagerten. Auch für die staatlichen Autoritäten, die nachweislich von der Zeitbombe im Hafen wussten, hatte die Explosion keine ernsthaften Folgen.

„Wir wussten von Anfang an, dass es hier im Libanon keine Gerechtigkeit geben wird“, sagt Paul, der in der ­inzwischen wieder renovierten Wohnung sitzt. „Der Libanon hat eine Geschichte politischer Morde und zahl­reicher Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung, ohne dass jemals jemand zu Rechenschaft gezogen wurde“, sagt er.

Die Lage wurde zum Verhängnis

Mit seiner Frau Tracy führt er an die Fensterfront. Dort ist der geschäftige Hafen zu sehen, und wenn man sich ganz nach links stellt, sieht man auch noch den Rest der Betonsilos, die durch die Explosion zerstört wurden. Es ist eine Traumwohnung mit einem wunderschönen Blick über die Küste von Beirut. Nach ihrer Hochzeit haben Tracy und Paul hier fünf Jahre zu zweit gelebt und drei mit ihrer Tochter.

Doch diese besondere Lage – der Blick und die große Fensterfront – ist es auch, die ihnen zum Verhängnis wurde. Zwischen der Wohnung und den Silos liegen gerade einmal 800 Meter, eine Distanz, die die Traumwohnung zum Albtraum werden ließ. Paul zückt sein Handy und zeigt Fotos einer völlig verwüsteten Wohnung. Auf einem ist ein großer Blutfleck zu sehen.

Sie hatte eine erste, kleinere Explosion gehört, dann eine zweite laute, erzählt Tracy. Sie dachte, es seien Flugzeuge, und schnappte sich die spielende Alexandra, um in die hinteren Räume zu fliehen. Dann kam in Sekundenschnelle die Druckwelle und schleuderte sie und ihr Kind durch die Luft.

Als sie wieder aufwachte, lag sie unter einer Tür und einer Klimaanlage. Paul hatte sie aufgeweckt. Tracy, selbst mit mehreren Rippenbrüchen, einem Schlüsselbeinbruch und zahlreichen Platzwunden, machte sich mit Paul und ihrem schwer verletzten Kind zu Fuß und mit der Hilfe Unbekannter im totalen Chaos auf den Weg ins Krankenhaus, wo Alexandra wenige Tage später verstarb.

Die Rückkehr in ihre Wohnung im vorigen November ist den beiden extrem schwergefallen. „Wir lieben dieses Haus eigentlich, das war unser Leben und das Alexandras“, sagt Tracy. Zunächst seien sie für zehn Minuten, dann für eine Stunde, dann für zwei Stunden hierhergekommen, schließlich übernachteten sie ein paarmal, blickt Tracy zurück. Alles erinnere sie an ihre Tochter. Und die Nähe zum Hafen sei bis heute beängstigend.

Dass sie in ihre alte Wohnung zurückgezogen sind, hat auch dazu geführt, dass sich Tracy und Paul mit dem 4. August auseinandersetzen mussten. Das war gut, meint Tracy. „Es gibt viele, die nicht wieder in ihre Wohnungen zurückgekehrt sind und die über das, was ihnen passiert ist, nicht einmal sprechen wollen. Wir leben das hier jeden Tag“, erzählt sie.

Das hat das Paar nicht nur stark, ­sondern vor allem auch wütend ­gemacht. Tracy und Paul gehören zu den Sprechern der Opferfamilien. ­Jeder im ­Libanon kennt die beiden. „Dass wir im Libanon nicht einmal ein Fitzelchen Gerechtigkeit bekommen, ist extrem frustrierend“, sagt Paul, „anstatt uns zu helfen, blockiert der Staat alles.“

Eine innerlibanesische Untersuchung unter Führung des bekannten Richters Tarek Bitar liegt seit zwei Jahren auf Eis. Deswegen knüpfen Tracy und Paul ihre Hoffnung an eine internationale Untersuchung. Die beiden betreiben Lobbyarbeit, damit sich der UN-Menschenrechtsrat in Genf der Angelegenheit annimmt. Sie hoffen, dass der Rat endlich per Resolution eine Fact Finding Mission ins Leben ruft, die die Hintergründe der Explosion untersucht. Seit 2006 hat der Menschenrechtsrat 30 derartige Mis­sio­ns weltweit gegründet.

Die Rückkehr in die Wohnung war schwer. Alles erinnerte sie an ihre Tochter

Das würde auch Druck auf die libanesische Untersuchung ausüben, die von jenen Leuten im politischen Establishment blockiert wird, die fürchten, zur Rechenschaft gezogen zu werden. „Die Leute, die uns am 4. August umgebracht haben, sind immer noch in den ­gleichen Machtpositionen statt hinter Gittern“, sagt Tracy bitter. Beobachter verdächtigen insbesondere die Schiitenmiliz und politische Partei Hisbollah, in die Angelegenheit verwickelt zu sein. Aber auch Sicherheitsbehörden bis hin zu hohen Amtsträgern wie dem Präsidenten und Regierungschef wussten von dem Ammonium­nitrat im ­Hafen.

In einem Gerichtsverfahren, worin Paul als Nebenkläger auftrat, hatten die beiden mehr Erfolg. Ein Gericht in Großbritannien hatte im Februar dieses Jahres die in London registrierte Firma Savaro Ltd., die das Ammoniumnitrat nach Beirut geliefert hatte, für haftbar erklärt. In einer weiteren Phase des Zivilprozesses muss jetzt noch die Entschädigung für die drei klagenden Familien festgelegt werden.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

In dem großen schwarzen Loch, in dem die Ereignisse rund um den 4. August verschluckt worden sind, ist das ein kleiner Teilerfolg. „Wir versuchen auf allen möglichen Wegen, Licht ins Dunkel zu bringen“, erklärt Paul. „Wenn nicht libanesische Investigativjournalisten einige Hintergründe aufgeklärt hätten, wüssten wir bis heute gar nichts.“

Jetzt gehe es darum, das alles von einer internationalen Fact ­Finding Mission bestätigt zu bekommen. Das wäre dann eine Grundlage, auf der Strafverfahren im Libanon aufgrund der öffentlichen Meinung nicht mehr blockiert werden könnten.

Ein Mann und eine Frau in einem Innenraum. An der Wand hängt eine Portrait- Zeichnung eines Mädchens

Tracy und Paul Naggear in ihrer Beiruter Wohnung Foto: Karim El-Gawhary

Noch macht die Wut Tracy und Paul stark. Aber die Frage ist, wer hier den längeren Atem hat: die beiden Eltern, die ihre Trauer in politischen Aktivismus umgewandelt haben, oder jene Mächte im Libanon, die das Ganze blockieren und aussitzen.

In Tracys und Pauls Wohnung am Hafen von Beirut gibt es jedenfalls einen neuen Lichtblick. Ihr Baby, der einjährige Axel, wackelt in einem grünen Strampelanzug mit Sternchen auf noch etwas unbeholfenen Beinen über den Steinboden und bleibt mit einem erobernden Lächeln genau an der Stelle stehen, wo seine Schwester während der Explosion gespielt hat.

Nach Axels Geburt hatten Tracy und Paul all ihre Freunde und Verwandten eingeladen. Weil ihnen mit Axel ein Geschenk gemacht wurde, das ihnen auch ein wenig über die Trauer hinweghilft, haben sie allen Besuchern ein kleines Präsent überreicht. Jede und jeder bekam einen Kerzenhalter – hergestellt aus dem Glas der Fensterscheiben, die am 4. August vor drei Jahren geborsten waren.

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