Debatte über migrantisierte Literatur: Die Rückseite der Worte
Braucht es einen „Turkish Turn“ in der deutschen Literatur? Der Bachmann-Wettbewerb hallt nach.
„Diese Schöpfungen, die du aus deinem eigenen Körper ausgraben wirst, werden als Türkisch registriert.“ Die autofiktionale Ich-Erzählerin in Emine Sevgi Özdamars Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“ (2021) weiß, dass die Literaturkritik der Sprache ihrer Texte Fremdheit zuschreiben wird.
Mehr als 30 Jahre, nachdem ihr der Bachmannpreis verliehen wurde, las Deniz Utlu am letzten der diesjährigen Tage der deutschen Literatur vor. Die Abwertungen einiger Jury-Mitglieder hallen eine Woche später noch nach, denn sie werfen Fragen nach Rezeptionsmustern von migrantisierter Literatur auf.
Über 6.000 Kilometer voneinander entfernt verfolgten wir live die Diskussion über ästhetische Beurteilungen und literaturkritische Wertungen. Welche Eigenschaften und stilistischen Merkmale von Utlus Text lassen in diese Folgerungen münden? Inwiefern wurde die Diskussion von Erwartungshaltungen an den Text und dessen Themen geleitet, als Klaus Kastberger beispielsweise konstatiert, dass es „ein bisschen Wildheit für diese Themen [braucht]“?
Die Juror*innen sind sich darin einig, dass die Sprache in Utlus Text „Damit du sprichst“ zentral ist: der Ich-Erzähler, der in der zweiten Generation von Eingewanderten in Deutschland lebt, und dessen Bezug zur Sprache; die Sprachlosigkeit seines sterbenden Vaters, der nur „mit seiner Augenzunge“ kommunizieren kann; die Unmöglichkeit des Sprechens mit der Mutter.
Ela Gezen ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin an der University of Massachusetts Amherst, USA.
Maha El Hissy ist Literaturwissenschaftlerin und schreibt über Themen wie Postkolonialismus, deutsche Literatur von BPoC-Autor*innen sowie Literatur nach Hanau und dem NSU.
Und schließlich das Ausbuchstabieren der Geschichte, das von der Jury bemängelt wird, während es eigentlich den Versuch, zu einer Sprache und zum Sprechen zu finden, performativ darstellt.
Deutsche Versäumnisse
Es ist Bachmann-Jurorin Mithu Sanyal, die die Frage nach Utlus Referenzen nach drei Tagen, in denen die Diskussion in erster Linie um deutsche und österreichische Vorbilder kreiste, einbringt. Der Hinweis auf Yaşar Kemals „Memed mein Falke“ („İnce Memed“, 1955) biete andere literarische Themen und Muster, führt Sanyal aus. Auch Fatma Aydemirs „Dschinns“ (2022) schaffe Vorbilder und Identifikationsmöglichkeiten, schließt Insa Wilke an.
Wie Sanyal andeutet, bleibt es ein Versäumnis dieses Landes, dass es das Werk des weltberühmten kurdischen Schriftstellers und Aktivisten und seine Bedeutung als Romancier für die türkische und die Weltliteratur nicht würdigt, obwohl die Entstehungs- und Übersetzungsgeschichte von Kemals Text die Literaturszene in Deutschland vor mehreren Jahrzehnten prägte. Im Jahr 1982 veröffentlichte Yüksel Pazarkaya die Essaysammlung „Rosen im Frost. Einblicke in die türkische Kultur“, in der er Kemal porträtiert.
Dank der Arbeit von nach Deutschland emigrierten Übersetzer*innen und Verleger*innen, wie Yıldırım Dağyeli oder Helga Dağyeli-Bohne, sind Übertragungen der „Memed“-Tetralogie ins Deutsche entstanden. Nâzım Hikmet, dessen Werk in den 1970er Jahren anhand verschiedener Publikationen und Ausstellungen in Westdeutschland von türkeistämmigen Kulturschaffenden eingeführt und zugänglich gemacht wurde – in der DDR gehörte er bereits zum literarischen Kanon an Schulen –, hat Yaşar Kemals Roman ins Russische übersetzt.
Allein die fehlende Bekanntheit dieses Autor*innen-Kollektivs, das sich über die Arbeit am Werk Kemals formte, spricht Bände über die problematische und homogene Kanonbildung in Deutschland, die das literarische Schaffen nicht-weißer Autor*innen ausgrenzt. Ironischerweise ist es Deniz Utlu, der in einem Essay aus dem Jahr 2011 von den Archiven der Migration, den vergessenen Wissens- und Bibliotheksbeständen, die bundesweit verstreut sind, erzählt und der Frage nachgeht, wie marginalisierte und gelöschte Positionen sicht- und hörbar gemacht werden können.
Neuschöpfungen werden exotisiert
Über den Neologismus der plastischen „Augenzunge“ tritt Utlus Text in Dialog mit Özdamars Erzählband „Mutterzunge“ (1990). Dass im Türkischen dil sowohl „Zunge“ als auch „Sprache“ bedeutet, hat die Büchner-Preisträgerin in ihrer gleichnamigen Kurzgeschichte gezeigt. Schon damals wurden Neuschöpfungen in ihrem Werk bemängelt oder exotisiert. In einem Text mit dem Titel „Damit du sprichst“ wären mündlich tradierte Erzählformen, die der deutschen Sprache fern liegen, als Muster naheliegend.
Außerdem stellt der Textauszug eine Verbindung zu Utlus vorangegangenen Romanen, wie „Die Ungehaltenen“ (2014), her, der eine ganz andere Form der Sprachlosigkeit zwischen einem Sohn und seinem verstorbenen Vater aufzeigt und auch das Verhältnis der zweiten zur ersten Generation literarisch thematisiert.
In der Diskussion über migrantisierte Literatur werden allzu oft homogene Lesegemeinschaften imaginiert und einander gegenübergestellt: Die einen würden ihn, Kemal, nicht kennen. Für die anderen würde er wahrscheinlich in jedem Bücherschrank stehen, so Insa Wilke. Ist die Schlussfolgerung, die sich hier ziehen lässt, dass die Herkunft von Autor*innen Leserschaften festlegen, etwa analog zur andauernden Reduktion von migrantisierten Autor*innen auf die literarische Verarbeitung von Migration?
Eine türkische Wende
In den USA erregte das Schreiben von aus der Türkei nach Deutschland eingewanderten Autor*innen schon vor mehreren Jahrzehnten Aufmerksamkeit, während man in Deutschland mit den Kategorisierungen Ausländer-, Betroffenheits-, Gastarbeiter- oder Migrantenliteratur rang. Literaturwissenschaftlerin Leslie A. Adelson plädierte für einen Turkish Turn, eine türkische Wende, in der deutschen Gegenwartsliteratur und schlug eine neue Grammatik der Migration vor, um diese Texte auf ihre Fähigkeit der Neukonfigurationen des nationalen Archivs der deutschen Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts hin zu untersuchen.
Utlus Bachmann-Text, ein Auszug aus dem bald erscheinenden Roman „Vaters Meer“, gibt Anlass für das Nachdenken über ineinandergreifende kurdisch-türkisch-deutsche Geschichte(n) und Literatur(en). Neben Yaşar Kemal finden sich darin Hinweise auf die verschwiegene kurdische Geschichte der Mutter und des Großvaters oder die kurdische Stadt Mardin nahe der syrischen Grenze. Wenn der Protagonist von einem kurdischen Dichter aus dem Irak erzählt, der in Hannover im Exil lebt, schreibt sich zudem eine kurdisch-arabische Geschichte in die deutsche Literaturgeschichte ein.
Auf die Rückseite der Worte schaut Deniz Utlu in der gleichnamigen Mainzer Poetikdozentur, die er 2021 innehatte. Darin reflektiert er über den Schreibprozess: ab der Entstehung des literarischen Textes bis zu den etablierten Anerkennungsstrukturen im Literaturbetrieb. „Die Wahrhaftigkeit des Schreibens“, so Utlu, „liegt paradoxerweise oftmals jenseits der verwendeten Worte, vielleicht auf ihrer Rückseite […].“ Ob man sich in Klagenfurt verweigerte, auf die Rückseite der Worte zu schauen?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Berichte über vorbereitetes Ampel-Aus
SPD wirft FDP „politischen Betrug“ vor
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“