: Stumme Väter und eine typisch deutsche Geschichte
Der Deutsch-Amerikaner Burkhard Bilger hat mit „Fatherland“ ein in den USA viel diskutiertes Buch vorgelegt. Seine Aufarbeitung der NS-Familiengeschichte befeuert die US-Diskussion über eine vorbildhafte deutsche Vergangenheitsbewältigung. Eine Begegnung in New York
Von Sebastian Moll
Burkhard Bilger ist mittlerweile in anderen Welten unterwegs, die jahrelange, geradezu besessene Erforschung seiner deutschen Wurzeln ist nur noch eine vage Erinnerung. Sein Wohnzimmer in Brooklyn ist übersät mit Musikinstrumenten – da sind ein Schlagzeug, eine Gitarre und verschiedene kleinere Perkussionsinstrumente. Bilger ist in seine andere Leidenschaft wieder eingetaucht: die Musik. Einen Tag nach unserem Treffen erscheint im New Yorker sein großes Feature über das legendäre Blues-Label Stax in Memphis.
Doch die Erscheinung seines Buchs „Fatherland“ zwingt ihn dazu, noch einmal die Arbeit zu erinnern, die er eigentlich seit mehr als einem Jahr abgeschlossen hatte. Noch einmal zu reflektieren, was ihn als Deutsch-Amerikaner dazu angetrieben hat, ein Jahrzehnt seines Lebens damit zu verbringen, herauszubekommen, wer sein Großvater war. Und vor allem: Was dieser während der Nazizeit getan und gedacht hat.
Für einen Deutschen seiner Generation, der „Boomer“, wäre das kein ungewöhnliches Projekt gewesen. Es gibt nur wenige Deutsche, die zwischen 1950 und 1970 geboren wurden, die sich nicht irgendwann einmal gefragt haben, was ihre Eltern und Großeltern im Dritten Reich getan haben. Die Regale deutscher Buchhandlungen sind voller Ergebnisse solcher Ausgrabungen: von Stephan Wackwitz’„Ein unsichtbares Land“ über Per Leos „Flut und Boden“ bis hin zu Maxim Leos „Haltet euer Herz bereit“.
Doch für einen Deutsch-Amerikaner war die Frage, was seine Eltern und Großeltern während des Dritten Reichs getan hatten, weniger dringend. Die Nationalsozialismus-Erfahrung der Vorgängergenerationen erschien Burkhard Bilger, der in Oklahoma zur Welt kam, zunächst nicht identitätsstiftend. „Ich habe als kleiner Junge das Alemannisch meiner süddeutschen Eltern gelernt, und es gab bei uns Spätzle. Aber das Deutschsein meiner Eltern habe ich mit ihrer politischen Vergangenheit erst während dem Studium in Verbindung gebracht.“
Das mag auch daran liegen, dass seine Eltern in den USA noch weniger über die Nazizeit gesprochen haben, als Deutsche der HJ-Generation in Deutschland. „Niemand fragte wirklich nach“, so Bilger. Wenn sie jemandem erzählten, dass sie in Deutschland während der Nazizeit aufgewachsen waren, dann schwenkte das Gespräch schnell zu einem anderen Thema um. Man wollte alles Verfängliche vermeiden.
Gerade das begann jedoch den Journalisten Bilger irgendwann zu interessieren. Da war einerseits die moralische Gewissheit des in Amerika erzogenen jungen Mannes, dass alles, was mit Deutschland und dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängt, das absolut Böse ist. „Man hat in Amerika bis heute keine sehr nuancierte Vorstellung davon.“ Auf der anderen Seite war da der zwar etwas steife und unnahbare, aber doch liebevolle Großvater, an den Burkhard Bilger sich aus Besuchen in der alten Heimat, dem Schwarzwald, als Kind erinnerte und der so gar keine gute Nazikarikatur abgab.
Also begann Bilger seine minutiöse Recherche, die ihn in deutschen Archiven beinahe ertrinken ließ. „Ich hatte das Gefühl, in der Bibliothek von Babel gelandet zu sein. Hunderte Kilometer an Regalen in jede Richtung.“ Doch Bilger war entschlossen, sich da hindurchzuwühlen, um mit romanhafter Detailgenauigkeit die Geschichte seines Großvaters erzählen zu können. „Ich wollte die Tatsachen erzählen, so wie sind.“ Alles, um nur ein voreiliges moralisches Urteilen zu vermeiden. „Es sollte weder eine Apologie sein noch eine moralische Hinrichtung.“
Die Geschichte, die Bilger fand, war in vielerlei Hinsicht eine typisch deutsche Geschichte. Bilgers Großvater, Karl Gönner, wurde um die Wende zum 20. Jahrhundert in Herzogenweiler geboren. Der Gymnasiast wollte, wie sein Vater, Priester werden, doch dann kam der Große Krieg, in den er noch mit 18 ziehen musste, um an der Somme sinnlos die deutschen Stellungen zu halten. Er kehrte schwer verletzt und seelisch traumatisiert nach Hause und hatte, wie Bilger schreibt, nur noch Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung. Der Glaube an Gott war ihm verloren gegangen.
Karl Gönner wurde Grundschullehrer im Schwarzwald und musste in der Weimarer Zeit von Ort zu Ort ziehen, um überhaupt eine Anstellung zu finden. Und selbst wenn er eine fand, konnte er als Dorfschullehrer seine Familie eher schlecht als recht ernähren.
Die Nazis versprachen, all das zu ändern. Niemand sollte hungern. Zugleich kamen den Grundschullehrern in der Ausbildung einer neuen Generation von Deutschen eine zentrale, angesehene gesellschaftliche Stellung zu. Und so wurde Karl Gönner ein überzeugter Nazi der ersten Stunde, Parteigänger mit niedriger Mitgliedsnummer.
Burkhard Bilger: „Fatherland. A Memoir of World War Two, Conscience and Family Secrets“. William Collins, New York 2023, 320 Seiten, 25,03 Euro
Das kam ihm während des Zweiten Weltkriegs zupass. Karl Gönner wurde als Schulleiter über den Rhein in das besetzte Elsass versetzt und stieg dort rasch zum obersten Parteifunktionär auf. Somit war er in der Position über Frontversetzungen, Inhaftierungen und gar Deportationen zu entscheiden.
Wie sich im Verlauf von Bilgers Recherchen herausstellte, hielt sich sein Großvater dabei jedoch weitestgehend schadlos. Er war das, was man einen „anständigen“ oder „vernünftigen“ Nazi nennen würde. In der Gemeinde im Elsass, für die er zuständig war, wurde niemand deportiert oder aus „rassischen“ oder politischen Gründen verhaftet. Obwohl er fanatisch war, tat er, was er konnte, um menschlich zu bleiben. Bei einem farcehaften Verfahren nach 1945 wegen Kriegsverbrechen, sagten viele Bewohner des Ortes für ihn aus. Gönner wurde schließlich als Mitläufer eingestuft.
So weit die Geschichte, die Bilger über seinen Großvater in Erfahrung bringen konnte. Doch sein Buch ist mindestens ebenso sehr eine spannungsgeladene Detektivstory seiner Suche. Und insbesondere für das US-Publikum ist dabei interessant, wie Bilger in den sehr deutschen Diskurs über die Kinder der Kriegskinder hineingezogen wurde.
Bereits 2015 schrieb Bilger einen New Yorker-Artikel über diesen Aspekt seiner Arbeit. Er beschrieb, wie eine wachsende Zahl von Deutschen der zweiten und dritten Nachkriegsgeneration darum ringen, mit dem Trauma umzugehen, dass ihre Eltern und Großeltern ihnen weitergereicht haben. Und damit, dafür eine Sprache zu finden, nachdem über all das mehr als 70 Jahre lang geschwiegen wurde.
Schon deshalb fanden der Artikel damals und das Buch jetzt in den USA viel Beachtung. Der Versuch, sich mit Vorfahren ins Benehmen zu setzen, die Schuld auf sich geladen haben, und zu reflektieren, wie die Familiengeschichte einen selbst affiziert, trifft im Amerika von Black Lives Matter einen Nerv. Bilger: „Man fängt in den USA erst an, sich mit der kollektiven Schuld für die Grausamkeit der Sklaverei und des Genozids an den Ureinwohnern auseinanderzusetzen. Deutschland ist da Jahrzehnte voraus.“
So dient Bilgers Buch als Anregung für eine neue Generation von Amerikanern, sich mit dem Rassismus ihrer Eltern und Großeltern zu beschäftigen und damit zu ringen, wie man sich zu geliebten, aber zutiefst fehlgeleiteten Vorfahren verhält. Wie schon in anderen Zusammenhängen wird Deutschland als Vorbild der Vergangenheitsbewältigung hingestellt. Nicht zuletzt der schwarze Bürgerrechtler Ta-Nehisi Coates hatte in seinem bemerkenswerten Buch „Between the World and Me“ Deutschland zum Vorbild erhoben. Und in einem umfangreichen Artikel im Atlantic beschrieb kürzlich der Journalist Clint Smith neidisch deutsche Gedenkkultur. „Wenn wir überall Stolpersteine verlegen würden, wo Sklaven verschleppt wurden, gäbe es keinen echten Pflasterstein mehr in unseren Städten.“
Als Deutscher sieht man das freilich etwas skeptischer und fragt sich, ob genug erinnert und getrauert wurde und wird. Und auch Burkhard Bilgers Buch bleibt da ein wenig unbefriedigend. Wie die Auseinandersetzung mit der deutschen Familiengeschichte ihn selbst vielleicht verändert hat, mag Bilger am Ende nicht wirklich verraten. Da hält er sich bedeckt und bleibt damit dann doch dem Vermächtnis seiner stummen deutschen Vorväter treu. Nur einmal, nach einer Familienaufstellung mit anderen Kindern der Kriegskinder in Berlin verrät Bilger ganz kurz, „dass ihn das alles erschöpfe“. So bleibt bis in seine Generation hinein die Arbeit an der Vergangenheit überwältigend.
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