Album „The Omnichord Real Book“: Rückkehr zu den Sternen
Meshell Ndegeocellos Stimme navigiert zwischen Tradition und Afrofuturismus. Auf ihrem neuen Album sind auch zwei Gäste vom Label Blue Note dabei.
Das Omnichord ist ein handlicher, preiswerter Synthesizer, der 1981 in Japan auf den Markt kam. Seine Form wird häufig als sonderbar und eigenwillig beschrieben. Die ergonomische Plastikhülle des Omnichords erinnert eher an ein Spielzeug als ein Musikinstrument.
Sein Klang ähnelt dem einer elektronischen Harfe oder Zither, ausgestattet mit einer automatischen Rhythmusbegleitung. Ursprünglich entwickelt, um Laien den Einstieg in die Musik zu ermöglichen, besitzt das Omnichord heute unter Musiker:innen Kultstatus. David Bowie und Cyndi Lauper, Damon Albarn und Taylor Swift zählen zu seinen prominenten Anhänger:innen.
Auch Meshell Ndegeocello gehört zu den Fans des Omnichords. Das sagt schon der Titel ihres neuen, dreizehnten Albums „The Omnichord Real Book“. Die US-Musikerin, die im kleinen Ort Hudson im Bundesstaat New York lebt, hat es dem Instrument gewidmet.
Abgeschiedenheit und Isolation der Pandemie
Meshell Ndegeocello: „The Omnichord Real Book“ (Blue Note/Universal Jazz)
Mit der Musik blickt die 54-jährige Bassistin, Komponistin und Sängerin zurück auf die Abgeschiedenheit und Isolation während der Covidpandemie, die die Künstlerin wie einen persönlichen Verlust behandelt: Der zweite Teil des Albumtitels verweist auf das „Real Book“, ein Nachschlagewerk in Form eines Notenbuchs, in dem Jazzstandards verzeichnet sind. Nach dem Tod beider Eltern ging Ndegeocello durch deren hinterlassene Sachen und fand das „Real Book“ wieder, das ihr Vater, Saxofonist und als US-Soldat stationiert in Westberlin, ihr einst geschenkt hatte.
Die Laufbahn von Meshell Ndegeocello ist geprägt von Wandel und Vielseitigkeit. Musikalisch begann sie in der eigenständigen Go-Go-Funk-Szene von Washington. Anfang der 1990er Jahre spielte sie dann in New York in der Schwarzen Rockband Women in Love – als einzige Musikerin. Ihr Debütalbum „Plantation Lullabies“ war 1993 eine der ersten Veröffentlichungen auf Madonnas Label Maverick.
Im Sound des Albums vereinte Ndegeocello damals HipHop mit Soul und Jazz. 1994 arbeitete sie mit dem Poprockstar John Mellencamp für das Duett „Wild Night“ zusammen. Die Single stieg bis auf Platz 3 der US-Charts und katapultierte die kahl rasierte, androgyne Musikerin mitsamt dem dazugehörigen Video in die Heavy Rotation des Musik-TV-Senders MTV.
Schon auf ihrem zweiten Album, „Peace Beyond Passion“ (1996), adressierte sie offen Fragen von Homosexualität, Schwarzer Identität und Spiritualität. Die Wucht ihres Funk-Basses bildete dabei einen Gegensatz zu ihrem teilweise flüsternd-zerbrechlich wirkenden Sprechgesang; ein Kontrast, der die vielleicht einzige Konstante im Schaffen von Meshell Ndegeocello darstellt.
Verweigerung von Weiblichkeit
Auch wenn ihr von Labelseite nahegelegt wurde, sich weiblicher zu geben und doch bitte einmal mit Rap-Moguln wie Dr. Dre und Puff Daddy zusammenzuarbeiten, lehnte Ndegeocello diesen Wunsch stets ab und schlug die entgegensetzte Richtung ein. Das emotionale „Bitter“ markierte 1999 mit Country- und Blues-Elementen einen musikalischen Bruch – weg von Funk und HipHop, hin zu so atmosphärischem wie rockigem Kammerpop.
Mit „Comfort Woman“ endet 2005 schließlich ihre Zeit beim Label Maverick. Es folgten etwa ein Jazzprojekt und eine Rock-Platte. Seit 2011 veröffentlichte Ndegeocello vier Alben beim französischen Indielabel Naïve, darunter eine Hommage an die US-Bürgerrechtsaktivistin und Jazzsängerin Nina Simone sowie zuletzt mit „Ventriloquism“ ein beeindruckendes Album mit Coverversionen von R&B-Klassikern aus den 1980er und 1990er Jahren, etwa von TLC, Tina Turner, Sade und Prince.
Nun also „The Omnichord Real Book“. Das Album wird von dem traditionsreichen New Yorker Jazzlabel Blue Note veröffentlicht, womit Meshell Ndegeocello wieder zum US-Mainstream zurückgekehrt ist. Zwar mag die Zurückgezogenheit der Pandemie Ndegeocello zur Reflexion über das eigene Schaffen gebracht haben, zurückgezogen sind die 18 neuen Kompositionen mitnichten.
Lediglich vier Stücke bestreitet Ndegeocello allein, bei allen anderen wirken zahlreiche Musiker:innen mit. Auf der Liste der Gäste finden sich mit Jeff Ross und Ambrose Akinmusire auch zwei Labelkollegen von Blue Note. Zum anderen sind einige Musiker:innen der Einladung gefolgt, auf deren Alben Ndegeocello in der Vergangenheit mitgewirkt hat. Etwa der Jazzpianist Jason Moran, die Indierock-Diva Joan Wasser alias Joan As Police Woman sowie Brandee Younger, Jazz-Harfenistin einer jüngeren Generation.
Jazz und Omnichord
Dazu kommen mit Produzent Josh Johnson und Gitarrist Jeff Parker zwei Protagonisten aus dem Umfeld des angesagten Jazz-Labels International Anthem aus Chicago. Sängerin Thandiswa Mazwai aus Südafrika erweitert das Spektrum um eine Stimme von der anderen Seite des Atlantiks.
Und wie klingt jetzt Jazzmusik mit einem Omnichord? Weniger sonderbar, als sich dies vermuten lässt. Das Auftaktstück „Georgia Ave“ beginnt mit einem Beat aus der Rhythmusbox des Omnichords und einem charakteristisch-flächigen Synthesizerteppich, aus dem sich ein Groove mit Afrobeatbläsern und Dubeffekten entwickelt.
Die ungewöhnliche Soundsignatur des Synthesizers kommt in „An Invitation“ zur Geltung. Nicht in allen Liedern wird der Analogsynthesizer eingesetzt. So ist „Hole in the Bucket“ ein reines A-cappella-Stück mit dem Vokalensemble The Hawtplates.
Herzstück des Albums ist jedoch das vorab veröffentlichte „Virgo“, das gleich in zwei Versionen auftaucht. Hier reiht sich Ndegeocello in die eherne Tradition des Afrofuturismus ein. Über einer kratzenden Rhythmusgitarre und einem scheppernden Discobeat singt Ndegeocellos ätherische Stimme davon, einem Ruf folgend zu den Sternen zurückzukehren, wobei die hoffnungsvolle Freude im Gesang dem düster-grimmigen Synthesizerbasslauf entgegensteht. Textlich drehen sich die Stücke um Widersprüche von Sein und Schein („Gatsby“), Festhalten und Loslassen, Innen und Außen.
„Nothing lasts Forever“
Während „Call the Tune“ wie ein Mantra beschwört, alles unter Kontrolle zu haben („Everything is under Control“), erklärt nur wenig später eine Männerstimme zu Beginn von „Clear Water“, dass Kontrolle nur ein Mythos wäre, dem man nicht vertrauen sollte. In „Towers“ wird darauf hingewiesen, dass sich nichts bewahren lässt („Nothing lasts Forever“).
Fortschrittsgläubigkeit wird in „Burn Progression“ mit einer Anspielung an den Romanklassiker „Things Fall Apart“ des nigerianischen Schriftstellers Chinua Achebe eine Absage erteilt. Einzige Konstante scheint der Bezug auf sich selbst zu sein. Die Konzentration auf das Innenleben gegenüber den Ablenkungen der Außenwelt erhebt „Perceptions“ jedenfalls zum Leitspruch.
Zwischen den Polen von Beharren auf dem Eigenen und fortwährender Veränderung lässt sich am ehesten auch die Musik von Meshell Ndegeocello verorten: Sie bleibt sich in ihrem gleichbleibenden Wandel treu.
Oder, wie der US-Schriftsteller, Musikjournalist und Aktivist Amiri Baraka 1966 in seinem Essay „The Changing Sames (R&B and New Black Music)“ schrieb: Die Musik Schwarzer Musiker*innen mag sich ändern, sie hat jedoch den gleichen Ursprung und schaut nur auf verschiedene Dinge oder jeweils verschieden auf die gleiche Realität.
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