ADHS bei Erwachsenen: Wenn das Gehirn anders tickt

ADHS wurde lange vor allem bei erwachsenen Frauen nicht diagnostiziert. Spezialsprechstunden sind überlaufen und die Forschung holt erst langsam auf.

Doppelt belichtetes Frauengesicht

Eine ADHS-Diagnose zu bekommen, kann auch eine Entlastung sein, sagt der Experte Foto: Mikesch/plainpicture

Die Buchpremiere in Köln ist Wochen vorher ausgebucht. Der Veranstaltungsort in der zentralen Stadtbibliothek ist unspektakulär, die Autorin Jüngeren durch das Funkformat Mädelsabende auf Instagram bekannt, wo sie auch einen Aufklärungs-Account ins Leben gerufen hat, die heißt wie ihr Buch, das sie an diesem Abend vorstellt: Kirmes im Kopf. Wie ich als Erwachsene herausfand, dass ich AD(H)S habe. Ein charmanter Titel, charmant wie Angelina Boerger, die auf dem Podium sitzt und ihre Erfahrung, ihr Wissen und die eigene Leidensgeschichte zum Thema ADHS unter die Menschen bringen will.

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Boerger strahlt. Stolz, ein Projekt durchgezogen zu haben. Keine Selbstverständlichkeit für eine Person, die die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ADHS hat. Kommt sie doch schon in ihrer Wohnung immer wieder vom Weg und ihren Plänen ab, wie sie erzählt. Die Autorin liest Abschnitte aus dem Buch, ihre Stimme legt sich wie ein warmer Regen auf das Publikum, das die Geschichten und Begriffe aufsaugt. Impulsivität. Unkonzentriertheit. Motorische Ungeschicklichkeit. Hohe Emotionalität. Desorganisiertheit. Hyperfokus. Kein Durchhaltevermögen. Matheschwäche. Sprechdurchfall. Sätze nicht zu Ende sprechen. Andere nicht ausreden lassen. Gedankenkarussell. Kirmes im Kopf.

Nicht alle Begriffe passen auf den ersten Blick zusammen, aber psychische Beeinträchtigungen sind komplexe Angelegenheiten. Vor allem junge Frauen sitzen im Publikum, manche in Begleitung der Part­ne­r:in­nen oder der Mutter. Als die Diskussion eröffnet wird, kommen mehr Bekenntnisse als Fragen: Ich habe ADHS, ich könnte es haben, bei mir ist es spät diagnostiziert worden, ich warte auf einen Diagnosetermin, ich warte auf Resultate, ich warte, ich leide, ich bin froh zu erfahren, dass es anderen auch so geht. Es wird ein Abend des Self-Empowerments.

Boerger signiert geduldig die bald ausverkauften Exemplare vom Büchertisch, seit Wochen steht das Buch auf der Spiegel-Bestsellerliste. Ist es nur ein Hype, eine sich gegenseitig bestärkende Blase oder ein Leiden, das sich endlich Aufmerksamkeit verschafft?

Fest steht, viele Betroffene leiden. Sie ecken an, kriegen ihr Leben nicht gut auf die Reihe, fallen – eher selten – ganz aus dem System. ADHS ist nicht heilbar, aber es ist behandelbar. Es ist nichts, was ab und zu auftritt, impulsiv oder unkonzentriert sind alle von Zeit zu Zeit. ADHS bestimmt und beeinträchtigt den Alltag. Die Symptomatik kann sich im Lauf eines Lebens abschwächen und es lassen sich Strategien erlernen, damit umzugehen. Menschen mit ADHS sind spontan, kreativ, emotional, gesellig.

Das Phänomen des Zappelphilipps

ADHS galt bis zu den 1990er Jahren als Verhaltens- oder Entwicklungsstörung, die ausschließlich auf Kinder betraf. Heute leiden etwa 5 Prozent aller Kinder an ADHS. Auf ein Mädchen kommen drei bis vier Jungen. Inzwischen weiß man, dass ADHS – nach konservativen Schätzungen – bei 50 Prozent der Erwachsenen bestehen bleibt. Bei ihnen geht man von etwa 2,8 Prozent Betroffenen aus.

Felix Betzler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité, der seit 2019 eine ADHS-Spezialsprechstunde leitet, hält die Zahl für „unterdiagnostiziert“. Warum, erklärt er bei einem Besuch auf dem Charité-Campus, die in einem Backsteingebäude mit der alten Inschrift „Nervenklinik“ untergebracht ist. „Viele betroffene Erwachsene wissen möglicherweise gar nichts davon“, sagt Betzler. „Als sie Kinder waren, war darüber sowohl in der Gesellschaft als auch bei Ärz­t:in­nen wenig bekannt.“

Das Phänomen des Zappelphilipps oder eines Hans-guck-in-die -Luft aus dem „Struwwelpeter“ wurde von Heinrich Hoffmann schon 1871 erfasst. Franz Cramer und Hans Pollnow forschten in den 1930er Jahren zur Hyperkinetischen Störung im Kindesalter, wie sie damals genannt wurde. Doch erst nach 1968 nahm in den USA die Wissenschaft den Faden auf und untersuchte das, was seit 1987 unter dem Namen Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD) firmiert. In den 1990ern rückte dort auch ADHS bei Erwachsenen stärker in den Fokus.

Frauen fielen durchs Raster

In Deutschland begann man damals erst das Phänomen ADHS wahr- und ernstzunehmen, vornehmlich bei Jungen. Viele Frauen fielen in der Kindheit durchs Aufmerksamkeitsraster, weil Mädchen als verträumter gelten, als weniger verhaltensauffällig und sozial angepasster agieren. „Unsere diagnostischen Skalen, aber auch unser diagnostisches Bewusstsein ist zu sehr auf den männlichen Phänotyp geeicht“, stellt Felix Betzler fest. „Es gibt auch eine weibliche Aufmerksamkeitsdefizitstörung, eine ADS, ohne Hyperaktivität, die sich ein bisschen anders darstellt.“ Tatsächlich nähert sich der Frauenanteil der von ADHS-Betroffenen im Erwachsenenalter an.

Beide Bezeichnungen, ADS und ADHS, sind gebräuchlich. Drei primäre Erscheinungsformen unterscheidet die Wissenschaft derzeit bei ADHS: hyperaktiv-impulsiv, aufmerksamkeitsgestört oder eine Kombi aus beidem. Unaufmerksamkeit geht nicht immer einher mit Hyperaktivität, auch kann sich eine äußere Unruhe im Kindesalter später nach innen richten. „Das deutsche Diagnosesystem differenziert anders als das US-amerikanische leider nicht zwischen den beiden Typen, da müssen wir erst hin“, sagt Betzler.

ADHS gilt als neurobiologische Störung, es gibt festgelegte Diagnoseverfahren und -kriterien mit entsprechenden Skalen der Beeinträchtigung, aber keine direkte Nachweisbarkeit durch ärztlich diagnostizierte Biomarker oder ein MRT. Unterschiede im Gehirn lassen sich per Bildgebungsverfahren allerdings erkennen. „Sie reichen aber für eine Diagnose nicht aus“, sagt Felix Betzler.

Die Diagnostik umfasst immer ein ausführliches Erstgespräch und mindestens ein weiteres Treffen. Durch ein MRT und Labortests werden andere Ursachen ausgeschlossen. Es gibt Anamnesebögen und es finden Gespräche mit Bezugspersonen aus der Kindheit wie Eltern, Geschwistern, aber auch Lehrern statt, Schulzeugnisse werden ausgewertet.

Manchmal wie Detektivarbeit

Der Vergangenheit auf die Spur zu kommen, sei manchmal wie Detektivarbeit, sagt Betzler. „Zu den Diagnosekriterien gehört, dass die Symptome schon in der Schulzeit bestanden haben und die Beeinträchtigungen in mehr als einem Lebensbereich auftreten.“ Häufig seien die Betroffenen „in ihrem Wirksamkeitserleben beeinträchtigt“, weil sie kein Selbstvertrauen hätten aufbauen können.

ADHS geht oft einher mit psychischen Erkrankungen. Angststörungen, depressive oder andere affektive Störungen, zählt Betzler auf, aber auch Suchtverhalten. Das Risiko, depressiv zu werden, ist bei Menschen mit ADHS um das Fünffache erhöht. Liegt einer Depression oder Angststörung eine unerkannte ADHS zugrunde, hätte dies Auswirkungen auf Therapie und Medikation. Was behandelt man in so einem Fall zuerst? „Man sollte mit dem Krankheitsbild beginnen, das den größeren Leidensdruck verschafft. Wenn die Abwägung nicht klar ist, empfehle ich, mit der ADHS zu beginnen, weil es der Kausalität Rechnung trägt“, sagt Betzler.

Bis zu 20 Personen kommen pro Woche zu Betzlers Spezialsprechstunde in der Charité, die Warteliste ist geschlossen. Neben den Unikliniken gibt es bundesweit nur wenige psychiatrische oder psychologische Praxen, die sich mit der Thematik auseinandersetzen. Auch in der ADHS-Ambulanz der Uniklinik Bonn ist erst 2024 wieder ein Termin zu bekommen.

Syndrom statt Störung

„Es ist furchtbar“, sagt Alexandra Philipsen, die seit 2018 das Institut für Psychiatrie und Psychotherapie der Uniklinik Bonn leitet, sie schüttelt entschuldigend den Kopf. Alle Spezialambulanzen hätten dieses Problem. „Ich spreche bei ADHS statt von Störung lieber von einem Syndrom“, sagt sie, also dem gleichzeitigen Auftreten mehrerer charakteristischer Symptome. „Ich persönlich finde das Wort Störung etwas verstörend.“

ADHS ist eine neurobiologische Besonderheit, deren Ursache bis heute nicht gänzlich geklärt ist. Auch wenn eine starke genetische Verursachung bekannt ist, gibt es nicht das ADHS-Gen. Zumindest ist ein solches bisher nicht bekannt. „Wir wissen noch längst nicht alles“, sagt Philipsen, die in Bonn bereits die dritte Spezialambulanz ihres Berufslebens mit aufgebaut hat. „Aber wir wissen, dass die Medikation mit Psychostimulanzien wirkt. Und über ihren Wirkmechanismus sind wir auf die Idee gekommen, was die Ursache für ADHS sein könnte: dass zu wenig Dopamin und Noradrenalin als Botenstoffe zwischen zwei Nervenzellen zur Verfügung stehen.“

Die verschiedenen Hirnregionen sind über neuronale Schaltkreise vernetzt. Die Nervenzellen, auch Neuronen genannt, produzieren selbst die Botenstoffe, die sogenannten Neurotransmitter, die der Reizverarbeitung und Informationsübermittlung von Zelle zu Zelle dienen. Bei ADHS ist diese Informationsübermittlung nicht im Gleichgewicht, der synaptische Spalt vor allem mit Dopamin unterversorgt.

Das Gehirn mit Orchester vergleichen

Die Professorin vergleicht das Gehirn mit einem Orchester, „bei dem es beim Zusammenspiel nicht so recht funktioniert“. Das Bild fällt Philipsen beim Gespräch ein, es gefällt ihr. „Im Orchester weiß jedes Instrument, wann es an der Reihe ist, wann es laut und wann es leise zu spielen hat. Das erfordert höchste Konzentration. Aus der funktionellen Bildgebung wissen wir, dass bei ADHS­le­r:in­nen diese Nervenzellen nicht ausreichend aktiviert werden.

Es fällt ihnen schwer, punktgenau zu agieren. Auf der anderen Seite gibt es auch Hirnareale, die aktiv sind, wenn man nichts tut. Normalerweise werden diese Netzwerke dann deaktiviert. Was passiert bei ADHS? Die klimpern trotzdem. Je mehr ich mich damit beschäftige, desto mehr glaube ich, dass es ein Problem der koordinierten Aktivierung und Deaktivierung ist.“

Das Gedankenkarussell, die Kirmes im Kopf, der leicht verschleppte oder versetzte Orchestersound, kein Missklang, aber eben anders, als er sein sollte.

Anders, nicht krank

Betroffene und Forschende sprechen deswegen von Neurodiversität. “Es hat Vorteile, die ADHS nicht nur defizitär zu sehen“, sagt Felix Betzler von der Charité Berlin. „Dass man sagt: Wir sind anders, aber nicht krank.“ Alexandra Philipsen sieht bei Neurodiversität den Vorteil der Entstigmatisierung. ADHS hat eine starke genetische Disposition, die Vererbbarkeit liegt bei etwa 70 bis 80 Prozent, schätzt Philipsen.

„Aber ADHS ist nicht monogenetisch, es müssen verschiedene Risiko- und Umweltfaktoren zusammenkommen.“ Frühgeburtlichkeit zählt dazu, niedriges Geburtsgewicht, Pestizide, Deprivation, ein unstrukturiertes Umfeld. Was sie auch weiß, ist, dass es eine Reifungsverzögerung des kindlichen Gehirns gibt, die sich später ausgleicht.

In den 1990er Jahren waren es Eltern, die Selbsthilfegruppen gründeten, erzählt Myriam Bea am Telefon. Sie ist Geschäftsführerin von ADHS Deutschland e.V., einem Zusammenschluss von rund 200 Gruppen bundesweit für Eltern, Betroffene und Angehörige. „Wir Eltern haben damals geklagt“, erzählt Bea, Juristin und selbst Mutter von Kindern mit ADHS. „Die Krankenkassen weigerten sich, die Behandlungskosten ab der Volljährigkeit zu übernehmen.“ Erst seit 2011 gibt es das bekannteste Medikament bei ADHS, das Methylphenidat enthaltende Ritalin, auch auf Rezept für Erwachsene.

Etwa ein Drittel der Betroffenen habe eine auffällige Symptomatik, schätzt Bea, die anderen zwei Drittel liefen unerkannt durchs Leben. „ADHS ist nicht leicht zu diagnostizieren. Eigentlich dürfen alle Fach­ärz­t:in­nen die Diagnose erstellen. Aber die wenigsten lassen sich darauf ein. Die Menschen, die sich bei uns melden, sind manchmal völlig verzweifelt, weil es für ein Diagnoseverfahren viel zu wenig Angebote gibt.“

Gleichgesinnte finden

Die Betroffenen landen dann bei Social Media, bei Sascha Lobo, der ein Buch und einen Podcast zu seiner ADHS gemacht hat, oder bei Angelina Boergers Instagram-Kanal. „Ich empfehle allen“, sagt Myriam Bea: „Geht in die Selbsthilfe! Das Wichtigste ist, Gleichgesinnte zu finden.“ Der Verein hat eine sehr gute Webseite, bietet Coaching und Infos, aber keine Therapieplätze und Diagnostik.

Was hilft sonst? Sport, Verhaltenstherapie oder eine Kombi aus Verhaltens- und Gesprächstherapie. Auch Medikamente sind in der Regel sehr wirksam. Die Amphetamine noch etwas stärker und anders als Methylphenidat, aber beide sorgen letztlich für eine Mehrausschüttung vor allem von Dopamin. Die Medikamente haben allerdings Nebenwirkungen. Sie können zu Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Mundtrockenheit oder Kopfschmerzen führen. „Alle Medikamente, die wirken, haben auch mögliche Nebenwirkungen“, sagt Philipsen. Abhängig machten diese nicht.

Hilft es, bei Verdacht auf ADHS eine positive Diagnose zu bekommen? Alexandra Philipsen: „Die Aufklärung hilft dem Betreffenden und seinem Umfeld. Es gibt immer noch viele Menschen, die gar nicht wissen, was mit ihnen los ist.“ Ihr Berliner Kollege Felix Betzler: „Rückblickend erklären sich viele Schwierigkeiten, das führt zu einer immensen Entlastung.“ Die Journalistin mit ADHS, Angelina Boerger, schreibt dazu: „Sie hilft mir dabei zu verstehen, wer ich wirklich bin, meine Maske abzulegen und endlich ICH zu sein.“

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