Kirche ohne Mitglieder: Reif für die gottlose Gesellschaft?
Der Zustand der Kirche erinnert an Palliativmedizin und Sterbebegleitung statt an die Feier des Lebens. Ihr Siechtum ist dennoch keine gute Nachricht.
O stern ist das prächtigste Freiluftspektakel der christlichen Welt. Wer mal die Semana Santa am Pazifikstrand oder die Prozession im andalusischen Sevilla erlebt hat, versteht, warum das Berghain in Nordeuropa erfunden werden musste: Drei Tage wach, Körper und Geist von Musik und Masse verzücken zu lassen – dafür brauchen Katholiken im Süden nicht erst einen Club zu gründen.
Religiöse Momente sind Live-Events. Es braucht Masse um einen herum, um so in Verzückung zu geraten – auch wenn es Leute gibt, die beim Sound ihrer Stereoanlage ähnliche Stadien erreichen. Außerhalb dieser Live-Events landet die Kirche in der „Tagesschau“ nur noch auf den hinteren Sendeplätzen, in der Abteilung Vermischtes, also da, wo auch der Bericht über die Loveparade lief, als es sie noch gab. Weiter vorne landet sie nur noch, wenn es um Verbrechen in ihren eigenen Reihen geht. Es ist Ostern, aber statt der Kirche dabei zuzusehen, wie sie voller Verzückung die Auferstehung Jesu feiert, hat man das Gefühl von Sterbebegleitung. Wir schauen dem Siechtum ungläubig zu: Wie kann es sein, dass dieser jahrhundertealten Superpower nichts anderes mehr einfällt als Palliativversorgung?
Anfang des Jahres warnte der Papst: „Wenn Ideologie in kirchliche Prozesse einfließt, geht der Heilige Geist nach Hause.“ Ein schönes Bild; allein, dass er mit Ideologie nicht die katholische Weltanschauung meinte, in der eine Frau unrein und Homosexualität Teufelszeug ist. Ideologie sieht der Papst in der aktuellen Reformbewegung der deutschen Katholiken, im Synodalen Weg.
Ideologie ist wie Mundgeruch
Auch der Papst unterliegt also dem Glauben, den der marxistische Theoretiker Terry Eagleton anschaulich beschrieb: Ideologie sei wie Mundgeruch, den haben immer nur die anderen. Ausgerechnet der 266. Bischof von Rom. Ausgerechnet Papst Fanziskus, von dem sich so viele erhofft hatten, er würde der sympathische Anführer einer Reformbewegung sein, der Verantwortung für die eigenen Verbrechen übernimmt, Geschichte aufarbeitet, Opfer entschädigt, Geschlechterdiskriminierung, Hierarchien, Korruption abbaut und den Palliativansatz seiner Vorgänger über den Haufen wirft.
Dabei könnte er sich doch im hauseigenen Fundus bedienen: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, sondern er ist auferstanden“, heißt es im Lukas-Evangelium, das dieser Tage in zig Ostergottesdiensten wieder zitiert werden wird.
Doch die Kirche sucht ihr Leben weiter unter den Toten. „Die Kirche ist tot, es lebe der Glaube!“, feiern Kirchenkritiker deswegen konsequent den Schwund der Kirchenmitglieder, den auch Franziskus fast schon mutwillig befeuert. Verbrechen, Verschwendung, Versklavung, Vertuschung, Missbrauch von Macht, Kindern und, ja, auch Männern, die durchs Zölibat gezüchtigt werden sollen – so viele Gründe, dem Laden, der jahrhundertelang Spitzenreiter in der weltweiten Vermarktung der guten Gewissen war, die Insolvenz zu wünschen. Das Christentum hat die größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte mitzuverantworten und das größte, die Shoah, nicht verhindert. Es hat weder der Arbeiterklasse noch dem Klima was gebracht. Für Flüchtende tritt es auch nur dann ein, wenn die Überlebenden ihnen die Tür eintreten. Man könnte also sagen: Scheiß drauf.
Für eine immer größer werdende Mehrheit von Christen stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis sowieso nicht mehr. Ihnen wird einfach nicht mehr genug geboten. Nicht nur im Norden, wo das einzige Spektakel, das man sich in den dortigen Kirchen gönnte, aus einem Osterfeuer besteht, auf dem der Sperrmüll aus dem Frühjahrsputz verbrennt. Die Kirchen sind heute schlicht nicht mehr konkurrenzfähig.
Aber ist das wirklich eine gute Nachricht, ein Grund zum Feiern für Atheisten, Häretiker oder Agnostiker, Kapitalismuskritiker? Der Mitgliederschwund der Kirchen hat nur bedingt mit dem Bekanntwerden sexuellen Missbrauchs und dessen Vertuschung zu tun. Es ist banaler: Der Mitgliederschwund der Kirchen hält seit den 1980er Jahren an und verläuft parallel zum Mitgliederschwund der Parteien, Gewerkschaften, Vereine. Jegliche kollektive Organisierung steht unter Ideologie- und Hierarchieverdacht.
Soziologen wie Robert Putnam („Bowling Alone“) warnten schon vor 20 Jahren vor Individualisierung und Privatisierung des Sozialen. Der Verlust kollektiver Organisierung münde in Nomadentum, was den Rechten Zulauf bringe, da sich populistische, sektenhafte, protofaschistische bis faschistische Mobs in den sozialen Brachen breitmachen könnten. Ereignisse wie die Wahl des quasiparteilosen Donald Trump zum US-Präsidenten, der Sturm aufs Kapitol, aber auch die Querdenkerbewegung könnten dieser Analyse recht geben.
Wo früher Kollektive der Autorität des Staats entgegentraten, stehen heute lose Schwärme und Mobs von Querdenkern, QAnon-Anhängern oder Internettrollen. Anstelle kollektiver Betriebsversammlungen drückt heute das individuelle quiet quitting die Unzufriedenheit aus. Mit der Folge, dass die Entfremdung immer größer, die eigene Stellung aber auch nicht besser wird.
Doch mit den Kirchen ist es wie mit den Zeitungen und der Wirtschaft. Sowenig der Tod der gedruckten Zeitung das Ende des Journalismus oder das Ende der Fünftagewoche das Ende des Kapitalismus ist, wird das Ende der Kirche das Ende von Glaube, Religion und Gott sein. Für eine gottlose Gesellschaft aber sind wir sowieso noch nicht reif.
Die Frage ist, was und wer in das Vakuum tritt, das die dahinscheidenden Kirchen hinterlassen. Wird Elon Musk und seine Techreligion den Petersdom zum Hauptsitz machen? Werden die Querdenker in den Kölner Dom einziehen? Sollen die Steuern künftig nicht der Kirche, sondern dem Klangschalenyogi, dem Großstadtshrink oder dem Preppertoni überwiesen werden? Sicher, ob man Raver oder Reichsbürger wird, an wen man sein Seelenheil knüpft und wen man dafür bezahlt, entscheidet jeder selbst. Dass die komplette Individualisierung alternative Kirchen hervorbringt, die nicht ganz so harmlos sein könnten, wie die Klangschale klingt, ist aber alles andere als ausgeschlossen.
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