Hagai Dagan Fernsicht – Israel: Für Benjamin Netanjahu ist noch kein Messias in Sicht
Die schweren Unruhen auf dem Tempelberg, die die Schlagzeilen im Heiligen Land beherrschen, könnten erneut zu militärischen Auseinandersetzungen führen und die Beziehungen Israels zu den Nachbarstaaten belasten. Mag sein, dass die Ausschreitungen von palästinensischen Organisationen angefeuert wurden. Ihren Anfang nahmen sie indes, als jüdische religiöse Fundamentalisten mit der Absicht auf den Tempelberg zogen, dort eine Opferzeremonie abzuhalten. Die Misere ist, dass genau diese Fundamentalisten in der Regierung repräsentiert werden, namentliche durch die Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich. Weitere extrem Religiöse, die in der Regierung sitzen, sind die Haredim, die ultraorthodoxen Juden. Sie lehnen es grundsätzlich ab, Opferzeremonien auf dem Tempelberg abzuhalten, aber auch sie versuchen, radikalreligiöse Gesetzesreformen voranzutreiben, die dem liberalen Charakter des Staates Israel widersprechen.
Eins dieser Gesetze verbietet die Missionierung, tatsächlich geht es dabei nur um die christliche Mission. Nach haredischer Logik sind Versuche seitens christlicher Organisationen, die jüdische Öffentlichkeit zu beeinflussen gleichzusetzen mit dem Versuch, das jüdische Volk zu vernichten. Diese Logik stützt sich auf die Tradition, die religiöse Bekehrung als spirituelles Aussterben interpretiert. So empfinden die Haredim die physische Vernichtung der Juden und Jüdinnen in der Shoah und die Assimilierungsprozesse der Juden und Jüdinnen in die moderne Gesellschaft in Europa als gleichermaßen gravierend.
Die geplante Gesetzesreform alarmiert die US-Evangelisten. Ihre Haltung dem Staat Israel gegenüber ist sehr positiv. Traditionell unterstützen sie tatkräftig vor allem Israels Rechte. Diese Haltung stützt sich allerdings auf eine bestimmte Theologie. Demnach ist es die Aufgabe der Juden, den Boden für die Erlösung zu bereiten, und wenn es so weit ist und das Reich Gottes kommt, sollen sich alle Juden taufen lassen und Christen werden. Im Grunde wäre es schön, wenn sie schon jetzt damit anfingen.
Die Haltung der Haredim, die die evangelistische Mission als Ketzerei und Gräuel empfindet, ist für die Evangelisten unerträglich.
Für Regierungschef Benjamin Netanjahu wie auch für seine Koalitionspartner ist das ein Problem, denn von den Evangelisten kommt umfangreiche finanzielle Unterstützung für die jüdischen Siedlungen im besetzten Westjordanland. Sie stehen rechten israelischen Gruppierungen zur Seite und engagieren sich in den USA für die Sache Israels. Im Grunde gibt es da keinen Unterschied zwischen den Evangelisten und den Republikanern.
Der säkulare Netanjahu sitzt zwischen zwei extremistischen und kompromisslosen theologischen Haltungen: auf der einen Seite die Evangelisten, die die Juden als „Esel des Messias“ betrachten, auf der anderen die Haredim, die die Christen als Ungläubige und Feinde Gottes sehen. Dazu kommen dann noch die messianischen Siedler, die umgekehrt die Christen als „Esel des Messias“ betrachten, denn ihr Geld ermöglicht die Erlösung, und dann werden alle zum Judentum übertreten (oder zur Hölle fahren).
Hagai Dagan
lehrt Jüdisches Denken am Sapir College in Sderot und ist Autor vieler Sachbücher und Romane.
Netanjahu hat versucht, die Evangelisten zu beruhigen, und garantiert, keinerlei Einschränkungen und Verbote zuzulassen. Andererseits ist er aber auch von den Haredim abhängig.
Er ist politisch schwach, seine Versuche, zwischen den extremistischen Haltungen zu manövrieren, wirken nur unbeholfen. Seine eigene Haltung hinsichtlich einer Erlösung ist weit entfernt von der seiner Verbündeten in Israel und in den USA. Vorläufig zeigt sich sein Messias noch nicht einmal am Horizont.
Aus dem Hebräischen von Susanne Knaul
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