20 Jahre Irak-Krieg: Eine Jugend in Bagdad
Vor 20 Jahren wurde Saddam Hussein gestürzt. Die junge Generation im Irak ist mit Krieg und Terror aufgewachsen. Wie schaut sie heute auf ihr Land?
Wie die Invasion begann, wie Bagdad eingenommen wurde, wie Saddam verschwand, und wie es war, als dessen Regime am 9. April 2003 offiziell fiel, daran kann sich Hassan nicht erinnern. Doch was er noch genau vor Augen hat, erzählt er, ist die Hinrichtung des ehemaligen irakischen Diktators Saddam Hussein, im Dezember 2006. Mit seiner Familie sitzt Hassan damals im Wohnzimmer, vor dem kleinen Fernseher, über den die Bilder flackern: Saddam, der Strick, die Schlinge um seinen Hals.
Als die US-Armee 2003 in den Irak einmarschiert, ist Hassan vier Jahre alt und lebt mit seiner Familie in Sadr City, einem schiitisch geprägten Viertel Bagdads. In der Nähe seines Hauses explodieren damals Lastwagen und Autos, Menschen sterben. „Ich war jung“, sagt er, „ich erinnere mich kaum.“ Hassan ist nicht sein richtiger Name, den möchte er aus Angst vor Repression nicht in der Zeitung sehen. Im Irak ist das Recht auf Meinungsfreiheit nicht garantiert.
Wer sich politisch äußert, kann in Schwierigkeiten geraten. An einer privaten Universität im Bagdader Shoppingviertel Mansour – der Steinboden glänzt, die Gartenanlage ist gepflegt, Studentinnen tragen Taschen im Gucci-Design – studiert Hassan Literatur. Wie sieht er sein Land heute, nach der Diktatur Saddams, nach der Invasion der US-Armee, nach der des „Islamischen Staates“ – er, der in diesem anhaltenden Konflikt aufgewachsen ist? Der Irak sei ein schwieriges Land, sagt Hassan, mit nichts zu vergleichen. Wegen seiner oft blutigen Geschichte und seiner Diversität.
Im Irak leben Sunniten, Schiiten, Christen und Jesiden, Kurden, Araber und Assyrer auf einer Fläche, die etwa 1,2-mal so groß ist wie Deutschland. Um aus der vergleichsweise liberalen Hauptstadt in einen ganz anderen Irak zu gelangen, reicht eine einstündige Autofahrt, vorbei an Schlaglöchern, grünen Feldern und am Straßenrand grasenden Schafen, gen Westen, nach Falludscha.
In den Straßen Falludschas
Von einem Plakat an der Autobahn, kurz vor Falludscha, blickt Mohammad Al-Halbousi hinunter, Sprecher des irakischen Parlaments und Sunnit. Wer in die sunnitisch geprägte Stadt fahren will, muss einen Checkpoint der irakischen Armee passieren. An dessen Wänden: Bilder schiitischer Geistlicher und Anführer. Auf dem Hinweg geht die Kontrolle schnell, ein uniformierter Polizist winkt monoton ein Auto nach dem anderen durch.
Falludscha ist vielen ein Begriff, auch in Europa und Nordamerika. An kaum einem Ort im Irak wurde die US-Armee so heftig bekämpft wie dort. Die beiden Schlachten um die Stadt zwischen der US-Armee und sunnitischen Aufständischen gehören zu den blutigsten des Krieges. Als die verkohlten Leichen von vier Angestellten der US-Sicherheitsfirma Blackwater im März 2003 an einer Brücke in Falludscha aufgehängt wurden, gingen die Bilder des jubelnden Mobs um die Welt.
Die Brücke steht noch. Im Kampf gegen den „Islamischen Staat“, der die Stadt bis Juni 2016 über zwei Jahre lang kontrollierte, wurden Teile zerstört, dann wieder errichtet. Unweit des grünen Stahlgestells über dem Euphrat, an der neu gestalteten Uferpromenade, laden Bänke zum Verweilen ein. Ein Ausflugsschiff mit Restaurant schaukelt im grünlichen Wasser.
Einige Autominuten entfernt, im Zentrum der Stadt, verkauft ein junger Mann in einem kleinen, hellen Laden eingelegte Gurken und Oliven aus Holzbottichen. Seinen Namen will er nicht nennen. Die wirtschaftliche Lage im Irak sei schwierig, sagt er. „Wenn die Leute kein Geld haben, kaufen sie Fleisch, Brot – keine Gurken.“ Ob es unter Saddam besser war? Schulterzucken. Sein junger Kollege, der abkassiert, sagt: „Ja, doch, war es.“ Und Schuld an der Misere der Stadt und des ganzen Landes seien die schiitischen Milizen, die im Konflikt der vergangenen 20 Jahre erstarkt sind und heute den Irak mitregieren.
In den Straßen Falludschas sind vom Krieg gegen den „Islamischen Staat“ allenfalls noch Narben zu sehen: Ein Einschussloch in einer Hauswand, ein neues Gebäude nach dem anderen – errichtet auf den Ruinen der im Kampf zerstörten Häuser. Vor einem solchen Neubau steht ein junger Mann, auch er behält seinen Namen lieber für sich. Seinen Studienabschluss hat er in der Tasche, trotzdem findet er keinen Job.
Er wünscht sich Saddam zurück. Wenigstens Arbeit habe es damals gegeben. Von der Regierung in Bagdad hält er nichts, das Misstrauen ist groß. Aber auch Falludscha und dessen Bewohnern scheint nicht immer vertraut zu werden. Auf dem Rückweg Richtung Bagdad sind die Kontrollen am Checkpoint schärfer: Aussteigen, Kofferraum öffnen, ein magerer Schäferhund schnüffelt durch die Reihen der Autos. „Weiterfahren“, brüllt ein Polizist.
Ibrahim Thamer
In der Geschichte des modernen Irak habe es keine Periode gegeben, in der das Land die Chance gehabt habe, sich zu entwickeln, sagt Hassan. Auch unter Saddam – obwohl viele Iraker seine Herrschaft rückblickend beschönigen – habe es nie Freiheit gegeben. „Ich mische mich nicht in Dinge ein, die ich nicht ändern kann“, sagt er zur politischen Situation. „Wir stehen zwischen den Zeitaltern, wir haben das alte System noch erlebt“. Seine Hoffnungen setzt er in die Altersgruppe nach ihm – Generation Z.
Ibrahim Thamer ist zwar genauso alt wie Hassan, doch für ihn ist die Sache klar: Revolution oder Nichts. „Ich will Freiheit. Ich will in einem Land leben, in dem ich tun kann, was ich will. Niemand sagt mir, was ich machen soll und wie.“ Dafür ist er auf die Straße gegangen, im Herbst 2019, und dafür, sagt er, war er bereit, alles zu geben.
In seiner Instagram-Biografie steht, auf Englisch, „Zero F’s given“. „Ich bin ein Träumer“, erklärt er. „Ich will ein Haus, ein Auto, heiraten und nichts davon kann ich mir hier leisten – nicht bevor ich vierzig bin, oder so“. Ob er für eine US-amerikanische Firma arbeiten würde? Aber sicher. Viele junge Iraker würden das, ist er sich sicher. Die Zukunft ist wichtiger als die Vergangenheit.
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Und die politische Lage? „Ich hasse sie alle, diese Kriegstreiber“, sagt Ibrahim. Wenn er die Plakate auf den Straßen Bagdads sieht, auf denen Personen wie Qasim Soleimani, der von einer US-Drohne getötete Kommandeur der Quds-Einheit der iranischen Revolutionsgarden, als Helden verehrt werden, fällt ihm nur ein: „Terroristen“. „Dieses Land kann keine unabhängigen Entscheidungen treffen. Was den Nachbarländern nicht gefällt, wird nicht umgesetzt.“
Auch Mohammad, der seinen richtigen Namen nicht veröffentlicht sehen will, protestierte im Oktober 2019 auf dem Tahrir-Platz in Bagdad, bei der sogenannten Tishreen-Revolution. Was als Protest gegen Korruption und Arbeitslosigkeit begann, eskalierte bald in Gewalt, vor allem vonseiten der Sicherheitskräfte. „Ich war dort, weil ich das System verändern wollte“, sagt er. Doch es sei immer gefährlicher geworden, zu demonstrieren. Sein Vater habe ihn schließlich gebeten, zu Hause zu bleiben. An die Stimmung, die damals über dem Tahrir-Platz, über dem Irak lag, erinnert er sich gut: „Es war euphorisch, man fühlte diese Einheit – aber auch die Angst“. Er habe Menschen sterben sehen, sagt er, „für dieses Land“.
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Ein Land, das Aya, die mit ihren orange gefärbten Haaren leuchtend aus der Menge sticht, so schnell wie möglich hinter sich lassen will. Sie ist in Syrien und der Türkei aufgewachsen und erst vorigen September in den Irak zurückgekehrt. Vor allem die Türkei habe ihr gefallen, sagt sie, denn dort gäbe es Gesetze, die Menschen schützen, anstelle sie zu kontrollieren.
Die Gesellschaft im Irak sei weniger offen, als sie es gewohnt ist: „Man hat hier keine Entscheidungsfreiheit, vor allem als Frau – so ist die Tradition“. Ihre Zukunft sieht sie in Belgien, ihr Bruder lebt bereits dort. Mit Ibrahim – die beiden sind Freunde – streitet sie darüber. Er will im Irak bleiben, hier etwas verändern, „es gibt keine andere Option“, meint er. Aya sieht das anders. „Ich glaube nicht, dass sich der Irak verändern lässt. Dafür müsste man die Politik von Religion und Tradition befreien.“
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