Knastzeitung aus Berlin-Tegel: taz hinter Gittern
Der „Lichtblick“, Deutschlands einzige unzensierte Gefangenenzeitung, bekommt eine neue Redaktion. Die taz Panter Stiftung hilft beim Aufbau.
W achtürme und Kameras säumen die Mauer. Ein eisernes Tor, das sich wie von Geisterhand öffnet. Dahinter ein vergitterter Gang, die Sicherheitsschleuse. Ausweisabgabe, Taschenkontrolle. Die Berliner Justizvollzugsanstalt Tegel erstreckt sich auf einer Fläche von siebzehn Fußballfeldern. Einst war sie das größte Männergefängnis in Europa. Freiheitsstrafen für zumeist schwere Straftaten werden hier verbüßt.
Es ist Montag. Workshop-Tag. Eine Gruppe von Gefangenen lernt, wie man eine Zeitung macht, angeleitet von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der taz. Die Zeitung, die sie machen, ist nicht irgendeine Zeitung – es ist der Lichtblick, Deutschlands älteste und wohl einzige wirklich unzensierte Gefangenenzeitung. Und weil die Gefangenen nicht zu uns in die Redaktion kommen können, kommen wir zu ihnen.
Mit einem riesigen Schlüsselbund schließt uns ein Justizbediensteter in der Anstalt durch die Höfe. Vorbei an Werkstätten und Zellen-Gebäuden führt der Weg. An der Fassade der Soziatherapeutischen Teilanstalt, Sotha genannt, zuckt ein rotes Licht. Alarm. Ein 23-jähriger Insasse hat sich dort in der Nacht das Leben genommen. Die Kripo ist noch vor Ort, solange sind alle Insassen des Hauses unter Verschluss.
55 Jahre wird der Lichtblick in Tegel von Gefangenen gemacht. Seit dem vergangenen Sommer ist allerdings keine Zeitung mehr erschienen. Bei einer Durchsuchung der Redaktionsräume am 31. August 2022 beschlagnahmte die Polizei sämtliche Rechner. Die Redaktion, zu diesem Zeitpunkt nur aus zwei Gefangenen bestehend, wurde aufgelöst. Der verantwortliche Redakteur soll die Technik des Lichtblick dazu missbraucht haben, betrügerische Geschäfte zu begehen.
Die Geschichte Im Oktober wird die JVA Tegel 125 Jahre alt. Die 1898 eröffneten roten Backsteinhäuser in panoptischer Bauweise stehen unter Denkmalschutz. In der Nachkriegszeit wurde die Männerhaftanstalt sukzessive um Neubauten erweitert. Die Teilanstalt 7 (Sicherungsverwahrung) wurde 2014 eröffnet. Die gesamte Anlage ist so groß wie 17 Fußballfelder.
Die Haftplätze Zwischen 700 und 800 Menschen sitzen in Tegel ein. Höchststand der Belegung war 2007 mit rund 1.700 Insassen. Die Belegungsfähigkeit von Tegel wurde nach dem Bau einer neuen Berliner Haftanstalt reduziert. Es gibt in der Stadt zehn Anstaltsbetriebe.
Die Insassen Verbüßt werden alle Formen von Freiheitsstrafen, bis hin zu „lebenslänglich“ sowie Sicherungsverwahrung. Der Ausländeranteil beträgt 47 Prozent.
Prominente Gefangene Zu den bekanntesten Insassen gehören Carl von Ossietzky, in den 1920er Jahren Herausgeber der Weltbühne, sowie die Literaturhelden Franz Biberkopf aus „Berlin Alexanderplatz“ und Wilhelm Voigt, der als „Hauptmann von Köpenick“ Geschichte schrieb. Auch der Theologe Dietrich Bonhoeffer war in der NS-Zeit in Tegel inhaftiert. In den 80ern verbüßte der Boxer Bubi Scholz dort seine Haftstrafe. (plu)
9.00 Uhr, ein nüchterner Seminarraum in der Teilanstalt V. In Kleingruppen werden die Gefangenen von Beamten aus anderen Häusern zugeführt. Seit Dezember findet der Unterricht statt, den die taz Panter Stiftung finanziert. Einmal in der Woche, viereinhalb Stunden. Von 14 Männern, die den Workshop begonnen haben, sind noch acht dabei. Steffen, 33, ist der Jüngste, Peter, 62, der Älteste. Wie die meisten in diesem Seminar verbüßen die beiden lebenslange Freiheitsstrafen.
Ansage durch die Lautsprecheranlage: „Gebäudereiniger zur Kontrolle. Gebäudreiniger zur Kontrolle.“
Zwei Teilnehmer, Bär und Franco*, sitzen in Sicherungsverwahrung. Eine Maßnahme, die bei besonders schweren Straftaten im Anschluss eine Freiheitsstrafe verhängt werden kann.
Eigentlich besteht die Lichtblick-Redaktion aus fünf Leuten. Wenn Mitglieder ausscheiden, war es bisher immer so, dass es noch eine Rumpfredaktion gab, die die Nachrücker anlernen konnte. Dass alle Stellen vakant sind und mit Hilfe von außen neu besetzt werden müssen „das gab es noch nie,“ sagt Rafael Galejew. Der Justizbedienstete ist in der JVA Tegel für die Öffentlichkeitsarbeit und damit auch für die Belange des Lichtblick zuständig. Die unzensierte Zeitung bereite zwar der Anstalt gelegentlich Probleme, sei auch immer wieder ein Ärgernis, aber insgesamt zu wichtig, um sie eingehen zu lassen. „In der deutschen Vollzugslandschaft ist das ein Unikat“, sagt Galejew.
Für beide Seiten ist es ein ungewöhnliches Experiment. Die taz Panter Stiftung hat vielfältige Erfahrungen bei der Gewinnung von Nachwuchsjournalisten. Aber dem Knast-Apparat unter die Arme greifen? „Wir würden das nicht tun, wenn es sich nicht um eine unzensierte unabhängige Zeitung handeln würde“, sagt Vorständin Konny Gellenbeck.
Anders als sonst ist die Begrüßung an diesem Morgen in dem Seminarraum verhalten. Wie ein Lauffeuer hat sich der Suizid unter den 700 Insassen von Tegel herumgesprochen. Auch Peter, der sonst immer gute Laune verströmt, ist einsilbig. Einer fehlt: Adrian. Der Gefangene, der sich das Leben genommen hat, war auf seiner Station. Für die Pilotausgabe des Lichtblick, die im Laufe des Workshops entsteht, schreibt Adrian später einen Nachruf.
Interview-Übungen stehen auf dem Programm. In Kleingruppen sollen sich die Gefangenen gegenseitig zu dem neuen Haftraummediensystem, Hamsy genannt, befragen. In der Berliner Frauenhaftanstalt wird das System schon erprobt: In den Zellen können Videotelefonate geführt und ausgewählte Internetseiten aufgerufen werden. Als nächstes soll in der JVA Tegel ein Probebetrieb starten.
Bär: „Wie viele Fragen?“
Peter: „Fang mit einer an.“
Sabina: „Kommt drauf an, wie lange dein Gegenüber quatscht.“
Sabina Zollner, taz, leitet den Workshop. Auch das Programm hat sie ausgearbeitet. Sechs Kolleginnen und Kollegen aus Redaktion, Archiv und Layout übernehmen im Wechsel Unterrichtseinheiten. Zwei, drei tazler sind mit Zollner jeweils in Tegel.
Und dann ist da noch eine stille Beobachterin: Sibylle Arndt, langjährige Projektleiterin des freien Gefangenentheaters aufBruch. Weil sie dabei ist, hat die Anstaltsleitung davon abgesehen, einen Beamten mit in den Kurs zu setzen. Arndt kennt die Abläufe im Gefängnis, weiß, wo die Grenzen sind bei der Arbeit mit Gefangenen. Aber auch „die Jungs,“ wie sie die Inhaftierten nennt, schätzen sie. Die Neutralität des Seminars ist so gewahrt.
Dennis interviewt Nima:
Dennis: „Hast du eine Ahnung, wann das Hamsy kommt?“
Nima: „Nichts gehört.“
Dennis: „Hab ich mir gedacht. Wir wissen wie immer leider nichts.“
Nima: „Is überfällig, würde mega viel erleichtern. Die ganze Kommunikation. Man würde damit vielleicht auch den Handyschmuggel unterbinden.“
Computer und Handys sind in Gefängnissen verboten. Der gesamte Workshop findet analog statt. Die Gefangenen schreiben ihre Übungen mit der Hand, was auch das Redigat erschwert. Die Besuche im Knast fühlten sich an „wie eine Zeitreise in die 90er Jahre“, sagt ein taz-Redakteur.
Dass es dennoch Handys gibt, steht auf einem anderen Blatt. In jedem Knast ist das so. Allein in den acht Berliner Gefängnissen wurden 2021 laut Justizverwaltung 1.154 Mobilfunkgeräte beschlagnahmt, davon 166 in Tegel. Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Wo eins weg ist, taucht bald ein neues auf, ist die Erfahrung. Was soll das Verbot dann noch? Er verstehe das Bedürfnis nach Kommunikation, sagt Galejew. Aber mit den Geräten würden auch Straftaten begangen – betrügerische Einkäufe, Kinderpornografie, Drogenhandel, Heiratsschwindeleien.
Nima, 42, Jahre schwarzer Zopf, Jogginganzug, ist der einzige im Seminar mit Migrationshintergrund. Neun Jahre hat er noch offen. Der Workshop, sagt Nima, sei für ihn „eine geistige Herausforderung“. Die Leute auf seiner Station könnten nicht mal bis zehn zählen. Mit seinen lakonischen Sprüchen sorgt Nima im Unterricht oft für Erheiterung. Ob er wirklich Redakteur werden will oder nur wegen der Abwechselung da ist, ist schwer zu durchblicken.
Dafür, dass nur fünf der acht Seminarteilnehmer Redakteure werden können, verlaufen die Vormittage erstaunlich solidarisch. Die Anstaltsleitung wird am Ende diejenige sein, die entscheidet. Die tazler können Vorschläge machen, wen sie unter Gesichtspunkten wie Schreib- und Teamfähigkeit für geeignet halten. Letztendlich werden aber Sicherheitsüberlegungen den Ausschlag geben. Von Anfang an wurde das so kommuniziert. Alle wissen das.
Es ist eine diskussionsfreudige Gruppe. „Sehr intensiv und mitteilsam“ erlebe sie die Gefangenen, sagt eine taz-Redakteurin. Die Suche nach Rubriken für den neuen Lichtblick gewährt Einblicke in die Tegeler Subkultur: Dass Topfpflanzen verboten sind, weil in der Erde Drogen und Sim-Karten versteckt werden könnten. Haarschneidemaschinen, weil sie zur Tätowiermaschine umfunktioniert werden könnten. Eine neue Rubrik wird geboren: „Der Tegliche Wahnsinn“.
Eine große Verantwortung, aber auch große Erwartungen lasten auf einer Lichtblick-Redaktion. Für die Mitgefangenen ist die Zeitung der Kummerkasten, doch Tegel ist kein Ponyhof. Körperlich schwache und empfindsame Gefangene haben es schwer. Die zwischenmenschlichen Verhältnisse sind vom Gedanken des eigenen Vorteils regiert. Die vorherrschende Subkultur ist gewalttätig, intrigant und böse.
Aber auch nicht jeder Bedienstete ist ein guter Mensch. Der Lichtblick ist eine Instanz, die von Missständen erfährt, die gemeinhin nicht nach außen dringen. Keine Stelle in dem hermetisch abgeriegelten Vollzugssystem kann so wirksam agieren wie der Lichtblick. Das gefällt natürlich nicht jedem. Die Unterstützung der Anstaltsleitung zu haben, bedeutet nicht, keine Widersacher zu haben. Einst wie jetzt gibt es Vollzugsmitarbeiter, denen der Lichtblick ein großer Dorn im Auge ist.
Die Idee, die taz zur Wiederbelebung der Gefangenenzeitung nach Tegel zu holen, kommt von Olaf Heischel, Vorsitzender des Berliner Vollzugsbeirats, einem unabhängigen Gremium. Bei einem Treffen mit der Anstaltsleitung im Oktober werden dann Nägel mit Köpfen gemacht. Zu diesem Zeitpunkt gibt es schon eine Liste von Interessierten, doch erfahrungsgemäß springen später viele wieder ab. Sibylle Arndt kennt das vom Gefangenentheater, sie schlägt einen „Fischzug“ durch die Häuser vor.
Und so zieht zwei Wochen später eine Gruppe von tazlern, angeführt von Arndt und dem Regisseur des aufBruch, Peter Atanassow, durch die Teilanstalten. Flyer mit der Einladung zu einer Informationsveranstaltung im Kultursaal der JVA werden verteilt.
Arndt und Atanassow erweisen sich als wahre Türöffner. Begeisterung schlägt ihnen entgegen. Seit 1997 gibt es das Gefangenentheater. Viele Insassen haben schon mitgespielt. Wann wieder Proben seien, werden sie bestürmt. Hier ein Schulterklopfen, da eine Umarmung, ein kurzer Plausch.
Auf den dunklen Fluren riecht es nach Essen, in den Stationsküchen wird gekocht. Die Türen zu den Zellen stehen offen, Fernseher laufen, an den Wänden hängen Familienfotos neben Pin-ups, ein Gebetsteppich ist ausgerollt. Insassen schlappen in Jogginghosen, T-Shirt und Badelatschen durch den Gang. Ein alter gebrechlicher Mann, der uns später als „Kurtchen“ vorgestellt wird, baut sich in seiner Zellentür auf, als er Arndt und Atannasow sieht, und rezitiert einen Vers von Heiner Müller, den er einst in einem Theaterstück aufgesagt hat. Es ist eine berührende Szene, die viel über die Bedeutung des Theaters für die Gefangenen sagt.
Am Ende des Fischzugs stehen 32 Gefangene auf der Liste. Zu der Informationsveranstaltung am 21. November im Kultursaal, einem seelenlosen Raum, wo wir einen Stuhlkreis aufgebaut haben, kommen 21 Inhaftierte. Gleich zu Anfang, als bekannt wird, dass die Anstalt das letzte Wort haben wird bei der Auswahl der künftigen Redakteure, zieht ein Drittel murrend wieder ab.
Je eher sich die Spreu vom Weizen trenne, um so besser – Arndt ist da ganz pragmatisch. Auch beim Theater sei das so. „Von Anfang an die Latte hochlegen, straffes Programm und damit die geeigneten Leute binden“, rät sie den tazlern für ein Gelingen des Workshops.
Als es in Tegel im vergangenen Jahr erstmals hieß, eine neue Redaktion werde gesucht, gehörte Dennis zu den ersten, die sich meldeten. Im Workshop ist der kräftige Mann, lebenslänglich, seit 2016 in Tegel, einer der Stilleren. Der 58-Jährige, Zopf, Bart, tätowiert, unter dem Auge eine Knastträne, ist von Beruf Tischler, jetzt arbeitet er in der Schulbibliothek. Er sei ein Kämpfer, sagt er über sich. „Auch wir hier haben ein zweite Chance verdient“. Alle Lichtblick-Hefte der letzten Jahre habe er in seiner Zelle gesammelt.
Der Lichtblick war lange eine Monatszeitung, inzwischen erscheint er viermal im Jahr bundesweit in einer Auflage von 7.500 Heften. Nicht nur Inhaftierte lesen das Blatt. Es soll 60.000 Digitalabonnenten geben, was zeigt, dass es doch noch eine Reihe Menschen gibt, die sich für die Gefängnisse interessieren.
Inhalt und Aussehen unterliegen großen Schwankungen. Manchmal ist die Zeitung hochpolitisch, dann wieder flach und trivial. In den ersten Jahrzehnten war sie schwarz-weiß, dann Hochglanz und farbig. Seitenfüllende Urteile der Strafvollstreckungskammern und eine Kontaktbörse mittels Chiffre, die in vielen deutschen Knästen Anklang findet, sind fester Bestandteil. Eine Weile zierte auch ein halbnacktes Girl den Mittelteil. Das Niveau der Zeitung steigt und fällt mit der jeweiligen Redaktion. Schon immer war das so.
Dennis, Teilnehmer
Die Sonne ist hinter den Wolken hervorgekrochen. Stimmengemurmel im Raum, Gefangene und tazler arbeiten in Kleingruppen. Ab und zu mal ein Lachen. Die kleine Pinie im Hof vor dem Fenster ist voller Spatzen. Gartenarbeiter mit Schubkarren wuseln herum. Ein Ort, der überall auf der Welt sein könnte.
Ein taz-Redakteur kommt verspätet zum Workshop. Eine halbe Stunde habe die Einlassprozedur an der Pforte gedauert, stöhnt er.
Nima: „Wir brauchen länger, um rauszukommen.“
Dass die Sicherheit bei der Auswahl groß geschrieben wird, hat einen Hintergrund: Lichtblick-Redakteure haben große Privilegien. Mit einem grünen „Läuferausweis“ können sie sich innerhalb der Anstalt frei bewegen und sogar Gefangene in ihren Hafträumen aufsuchen. Nur Sicherheitsbereiche wie Drogenabschirmstation und Arrestzellen, Bunker genannt, sind auch für sie tabu.
Auch die Redaktionsräume sind großzügig ausgestattet: Mit dem Telefonanschluss können Gespräche deutschlandweit ins Festnetz geführt werden. Seit 2011 hat die Redaktion einen E-Mail-Account, seit 2021 Zugang zum Internet in getunnelter Form: Soziale Medien, Verkaufs-, Datingplattformen und Ähnliches sind gesperrt. Es gibt Monitore, Drucker und ein Faxgerät. Die beschlagnahmten Rechner sind noch bei der Kripo. Mittlerweile sind neue bestellt. Sobald die Geräte eingetroffen sind, was im April erwartet wird, könne die neue Redaktion die Arbeit aufnehmen, sagt Rafael Galejew.
Unter einer gewissen Haftstrafe ergebe es keinen Sinn, beim Lichtblick anzuheuern, sagt der 59-jährige Justizbedienstete, der seit 2015 in Tegel für die organisatorischen Belange des Lichtblick zuständig ist. Mindestens drei Jahre Reststrafe sollten es schon sein, sonst lohne sich die Einarbeitung nicht.
Die Anstalt stellt die Technik, bezahlt die Druckkosten und Löhne. In der dreimonatigen Probezeit verdient ein Redakteur 17,75 Euro am Tag. Nach der Festanstellung 19,65 Euro – Lohnstufe 5, die höchste im Justizvollzug. Ein minimaler Anteil für die Arbeitslosenversicherung geht noch ab.
Gerechte Entlohnung im Knast – für die Pilotausgabe hat Dennis dazu einen Artikel vorbereitet. Seit einem Jahr warten deutsche Gefängnisinsassen nun schon darauf, dass das Bundesverfassungsgericht über die Klage eines Gefangenen entscheidet.
Alte Ausgaben des Lichtblick liegen auf dem Tisch des Seminarraums, darunter auch die letzte vor dem Cut. „Rechtsstaat oder wohlfeile Hülse“? steht auf dem Titelblatt, garniert mit einer kopflosen Justizia, die von drei kleinen Fotos umgeben ist. Eines zeigt Julian Assange.
Was war am alten Lichtblick gut, was schlecht? Darum geht es im Workshop immer wieder. Was für ein Statement soll in der Pilotausgabe gesetzt werden? „Was wollt ihr wie anders machen?“, fragen die tazler. Eine Kleingruppe beschäftigt sich mit der grafischen Gestaltung, andere machen eine inhaltliche Analyse. In großer Runde werden die Ergebnisse diskutiert.
Dennis: „Hochglanz stinkt.“
taz-Layouter, 65 Jahre alt, schwarzer Hoody mit der Aufschrift „Arroganz Berliner“: „ Da kannste aber mal mit deinen Butterfingern drüber. Außerdem brauchste ein bisschen Gewicht, sonst hat man nichts in der Hand.“
Nima: „Wenn nur Quatsch drin steht, kann das Papier noch so gut sein.“
Negativ- und Positivlisten werden angefertigt. Natürlich soll der Lichtblick den Finger weiterhin in die Wunde legen, aber er soll auch überraschen. Zu viel Egotrip in den alten Ausgaben. Das Inhaltsverzeichnis muss übersichtlicher, Abkürzungen erklärt werden: AGST? ZMA? Die ellenlangen Gerichtsurteile „liest kein Schwein“. Außerdem seien 99 Prozent der Beschlüsse im Land Berlin sowieso Beschlüsse gegen die Gefangenen.
„Meckern muss Hand und Fuß haben“, sagt Michael, 51 Jahre, der noch knapp drei Jahre Haft offen hat und vom Aussehen auch in irgendeinem Amtszimmer sitzen könnte. „Nicht jeder Beamte ist ein Arschloch, nicht jeder Gefängnisarzt ein schlechter Arzt.“ Michael hat für die Pilotausgabe einen Text über das Anstaltsessen geschrieben: „Hungern im Betrieb“. Die Zustände ließen sehr zu wünschen übrig, sagt er, „aber ich bin auch selbst verantwortlich dafür, dass ich hier bin“.
Konsens ist: Die Kontaktanzeigen bleiben. Nur noch ausgesuchte Gerichtsurteile werden abgedruckt. Aus der Rubrik „Tegel intern“ wird der „Tegliche Wahnsinn“.
„Tegel intern“ existiert seit der ersten Lichtblick-Ausgabe, erschienen am 25. Oktober 1968. Die mit der Studentenbewegung einhergehende Liberalisierung der Bundesrepublik hatte vor den Toren der JVA Tegel nicht halt gemacht. Es war der damalige Anstaltsleiter Wilhelm Glaubrecht, der die unzensierte Gefangenenzeitung ins Leben rief. 1.600 Gefangene saßen damals in Tegel ein. In den Ende den 19. Jahrhunderts in panoptischer Bauweise errichteten roten Backsteinhäusern gab es noch ein Zuchthaus.
Auf einer DVD sind die alten Ausgaben dokumentiert. Die Seiten sind vergilbt, manche Buchstaben kaum noch zu entziffern. Die Artikel wurden auf Schreibmaschine getippt und mit Matrize abgezogen. Aufbruchstimmung und Euphorie der damals noch achtköpfigen Redaktion sind auf allen Seiten zu spüren. „Der Lichtblick wird oftmals harte Kritik üben, aber stets in sachlicher und fairer Form“, heißt es im Editorial. Aber nicht nur eine reine Knastzeitung werde man sein, „denn dann würde er mit der Zeit langweilig“.
Es gibt eine Rubrik „Twens“, die mit einer Schallplatte illustriert ist. Ein Redakteur namens Peter Hoppe stellt sich als Jahrgang 1942, genannt Beatles-Pit vor. Er habe die Seite für junge Menschen freigekämpft, schreibt er.
Schon in der zweiten Ausgabe, einen Monat später, feiert die junge Redaktion erste Erfolge. „Niemals hätten wir gedacht, dass der Lichtblick solchen Anklang findet.“ Gemeint sind die Mitgefangenen. Aber auch die Anstaltsleitung hat reagiert: Die Kürzung der Paket-ration sei zurückgenommen worden. „Wie in westdeutschen und ostzonalen Strafanstalten“ auch könnten nun Tegeler Insassen wieder zwei Pakete, jeweils fünf Kilo schwer, bekommen; eins zum Geburtstag und eins zu Weihnachten. Und Beatles-Pit verkündet, dass er es geschafft habe, einen DJ nach Tegel zu holen, der einmal die Woche über die Lautsprecheranlage Platten für die Insassen auflegen werde.
Ansage durch die Lautsprecheranlage: „Gebäudereiniger zur Kontrolle. Gebäudereiniger zur Kontrolle.“
taz-Archivarin: „Gibt es hier eigentlich auch manchmal Musik?“
Bär: „Hatten wir früher Mal.“
Der Lichtblick ist eine unzensierte Gefangenenzeitung – so steht es im Statut. Aber stimmt das wirklich? „Niemand guckt sich das vorher an“, versichert der Justizbedienstete Galejew. „Auch der Anstaltsleiter weiß vorher nicht, was drin steht.“ In der deutschen Gefängnislandschaft sei der Lichtblick damit wirklich einzigartig.
Wenn andere Gefangenenzeitungen im Bundesgebiet von sich behaupten, unzensiert zu sein, würden diese in der Regel von Initiativen außerhalb der Gefängnisse gemacht, sagt Galejew. Das sei auch daran zu erkennen, wer als presserechtlich Verantwortlicher im Impressum ausgewiesen sei. Im Lichtblick sei das stets der verantwortliche Redakteur, mit vollem Namen.
In den vergangenen 25 Jahren sei es zweimal vorgekommen, dass die Zeitung „nach dem Druck vor der Auslieferung angehalten“ worden sei, sagt Galejew. Einmal, weil eine Gruppenleiterin namentlich an den Pranger gestellt worden sei. Das andere Mal seien Vollzugsbedienstete auf dem Titel mit KZ-Wächtern verglichen worden.
Auch Schmerzensgeldforderungen gegen den verantwortlichen Redakteur habe es in Einzelfällen gegeben. Die Verfahren seien mit einem Vergleich beendet worden, die Behauptung sei richtig gestellt worden.
Die JVA Tegel werde von anderen Anstalten manchmal erstaunt gefragt, „warum tut ihr euch das an“, erzählt Galejew. Selbst wenn es immer mal wieder Ärger wegen der Zeitung gebe, die Anstaltsleitung stehe zum Lichtblick: „Es war und ist eine gute Entscheidung, ein Ventil zu schaffen, dass Inhaftierte ihren Unmut loslassen und sich artikulieren können.“
Weil der Seminarraum in der Teilanstalt V belegt ist, treffen wir uns in der Sicherungsverwahrung, einem 2014 eröffneten modernen Bau, der auf dem Anstaltsgelände extra gesichert ist. Bär und Franco sind dort untergebracht. Franco, lange strähnige Haare, empfängt mit dem Satz: „Man nennt das hier den lebendigen Sarg“. Die Aussichten für Sicherungsverwahrte, entlassen zu werden, sind gering.
Bär ist im Workshop der mit der längsten Knasterfahrung. Seit 1984 sitzt er ein. Der 56-Jährige, kräftige Statur, getönte Nickelbrille, Tattoos an den Armen, Silberkette mit Bärenkopf, hat schon viel geschrieben, er bezeichnet sich als Buch-Autor. Bär heißt so, weil er vernarrt in Bären ist. 256 Teddybären habe er in seinem Kinderzimmer gehabt, erzählt er. Zum Unterricht kommt er immer mit einem Köfferchen, in dem die Schreibutensilien verstaut sind.
Beim Workshop schreibt Bär freiwillig das Protokoll. Auch als es darum geht, auf dem Tafelschreibblock mit Filzstift die Seitenfolge der geplanten Pilotausgabe aufzumalen, übernimmt Bär den Part. Der taz-Layouter braucht Klarheit, er wird das erste Heft in der taz fertig machen, bevor es in den Druck geht, weil es in Tegel noch keine Geräte gibt.
Es geht hoch her. Bär muss streichen und ergänzen. Alle reden durcheinander. Nima hat einen Text über Preisexplosion geschrieben. Adrian hat sich mit dem Haftraummediensystem befasst, Peter braucht zwei Seiten für seine philosophische Betrachtung: „Selbstbestimmung oder Selbstbetrug“? Es gibt einen Rückblick, einen Ausblick und, und, und. Wo soll das alles hin?
Sabina: „Das wird ja ein Wälzer.“
Peter ist eine ganz besondere Erscheinung. Musisch und kunsthistorisch gebildet, zuvorkommend, gepflegt. Die Stiefel glänzen, er trägt einen Seidenschal, schreibt seine Texte mit Füller. Wenn es einen intellektuellen Kopf der Gruppe gäbe, dann wäre es der 62-Jährige mit dem kahl rasierten Schädel. Peter spricht Schwitzerdütsch. Seit gut fünf Jahren sitzt er in Tegel. In der Schweiz, wo er früher lebte, habe er „eher in abgehobenen Sphären gelebt“, sagt er. Bei der Oper „Fidelio“, die das Gefangenentheater aufBruch 2020 in Kooperation mit der Philharmonie auf die Knastbühne gebracht hat, war er der Pizarro, der Bariton. Nicht immer ist es einfach, Peters Gedankengängen zu folgen, aber seine Fröhlichkeit steckt an, und er ist keiner, der auf die anderen von oben herab blickt. „Der Knast hat mich geerdet“, sagt er.
Die Idee Der Vorschlag, die taz zur Wiederbelebung der Gefangenenzeitung nach Tegel zu holen, kam von Olaf Heischel, dem Vorsitzenden des Berliner Vollzugsbeirats. Das unabhängige Gremium wacht über die Belange der Berliner Haftanstalten und steht für „Menschlichkeit, Vernunft und Recht“. Heischel hat sich schon vor Jahren für die Legalisierung von Handys in den Knästen ausgesprochen. Alles andere sei realitätsfremd.
Die Suche Zur Findungskommission für die Teilnehmer des Workshops gehörte die Projektleiterin des Gefangenentheaters aufBruch, Sibylle Arndt. Der aufBruch verfolge ähnliche Ziele wie die Gefangenenzeitung, sagt die 47-Jährige: Auch die Theaterveranstaltungen dienten dem Zweck, das Gefängnis zu öffnen und den Gefangenen Stimme und Gesicht zu geben. Das unabhängige Berliner Theaterprojekt wurde 1997 gegründet. Zum 25. Jubiläum ist beim Alexander Verlag Berlin ein Porträt über aufBruch erschienen.
taz Panter Stiftung Die Stiftung wurde 2008 gegründet, um die Erfahrungen von unabhängigem Journalismus weiterzugeben. Mehr als 5.000 Spender haben inzwischen 151 journalistische Projekte finanziert. Auch Journalisten aus Kuba und Myanmar wurden schon zu Workshops in die taz eingeladen. Im Knast waren die taz-Panter aber noch nie. „Die Anfrage war keine 48 Stunden alt, dann war klar, wir machen das“, sagt Konny Gellenbeck, Vorständin der taz Panter Stiftung.
Die Reaktion der JVA Tegel „Das Angebot der taz ist hilfreich, großzügig und einfach toll“, sagt Anstaltsleiter Martin Riemer. Dem Berliner Justizvollzug sei es ein wichtiges Anliegen, dass der Lichtblick als unzensierte Stimme erhalten und die Unabhängigkeit der künftigen Redaktion von der Anstalt gewährleistet bleibe.
www.taz.de/spenden Konto Nr: taz Panter Stiftung GLS-Bank Bochum IBAN DE97 4306 0967 1103 7159 00
Die Gefangenen üben Kolumnenschreiben. In Schönschrift, krakelig, an der Grenze zum Unleserlichen. Steffen, der Jüngste in der Runde, ein ernster nachdenklicher Typ, der so wirkt, als habe er an einer schweren Bürde zu tragen, hat sich am „Teglichen Wahnsinn“ versucht. „Zum Teufel mit der Wahrheit – es lebe das Klischee“, ist der Text überschrieben. Der Workshop sensibilisiere ihn für sein Umfeld, sagt Steffen. „Er zwingt mich, Dinge zu hinterfragen“.
Was er meine, wenn er den Knast als „Klischeefabrik“ bezeichne, wird er in der Feedbackrunde gefragt.
Steffen: „Wenn mich ein Beamter verwundert fragt: Sie lesen auch?“
taz-Redakteurin: „Seid Ihr selbst auch Teil der Klischeefabrik?“
Steffen: „Man merkt, wie sich die Sprache ändert. Man mimt den Harten, obwohl man vielleicht weich ist. Ein harter Kerl, das ist auch die Erwartungshaltung von Frauen, die auf Kontaktanzeigen von Gefangenen antworten.“
Warum, wieso, weshalb – die Taten sind in dem Workshop kein Thema. Im Hinterkopf ist präsent, dass es Gründe geben muss für diese langen Strafen. Aber die tazler fragen nicht danach. Sie sind hier nicht als Journalisten, sondern als Lehrer und Ratgeber in Zeitungsfragen.Auch die eine oder andere Erfahrung der eigenen taz-Geschichte fließt ein.
taz-Layouter: „Ihr müsst Regeln aufstellen, sonst kriegt ihr euch in der Redaktion permanent in die Wolle. Einer muss der Bestimmer sein. Das Problem ist nur, dass es den Anführer in der taz eigentlich nicht gibt.“
27. März, Schlussredaktion. Wir treffen uns zum vorerst letzten Mal. Auf der Suche nach Fehlern werden die Kopien mit den Texten durchgegangen. Der Layouter hat seinen Rechner mitgebracht. Alle stehen im Kreis um ihn herum und tüfteln an der Titelseite: „Lichtblick ist back“ oder „Das Warten hat ein Ende“? Am besten beides. Zum Schuss eine allgemeine Feedbackrunde.
Sabina: „Mein Eindruck ist, ihr seid ein Stück weit zusammengewachsen.“
Es wird wohl Mai werden, bis die Zeitung gedruckt ist und ausgeliefert werden kann. Zunächst heißt es Warten auf die Entscheidung der Anstalt: Wer wird Redakteur? Mitte April soll sie kommen.
Eene meene Muh und raus bist du. Nima ist schon raus. Ein paar Tage vor dem letzten Workshoptag wurde er in eine andere Haftanstalt verlegt, aus vollzugsinternen Gründen – mehr war nicht zu erfahren. So schnell kann das gehen. Jetzt sind es nur noch sieben.
Epilog
Sibylle Arndt: „Muss man eigentlich zustimmen, wenn man verlegt wird?“
Gefangene im Chor: „Nein“!!!
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
*Name geändert
Die Autorin hat den Workshop als Reporterin begleitet.
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