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Den Rahmen von hinten betrachten

Ein Patriarchat, in dem man es nur mit Frauen zu tun hat, die sich gegenseitig zerstören wollen: Die Schriftstellerin Annika Reich stellte im Literaturhaus Berlin ihren Roman „Männer sterben bei uns nicht“ vor

Von Marie-Sofia Trautmann

Sie mache laute und leise Dinge, erzählt Annika Reich am Dienstagabend im Literaturhaus Berlin im Gespräch mit Mieke Woel­ky. Mit lauten Dingen meint sie das Politische, Aktivistische, mit dem Leisen ihre schriftstellerische Tätigkeit. Dass ihr neuer Roman, „Männer sterben bei uns nicht“, in die Kategorie „leise“ fällt, überrascht. Die Geschichte ist voll epischen, surrealen Glanzes und spricht sehr laut: darüber, was passiert, wenn Frauen für das Patriarchat keine Männer mehr brauchen.

Auf einem Anwesen voll schwerer Kristallgläser und kostbarer Brieföffner lebt Luise mit ihrer Mutter, ihren Großmüttern, einer Schwester, einer Tante, einer Cousine und einer Haushälterin. Die Lebensrealität dieser Frauen besteht aus endlosem Reichtum mit bestem Fisch und feinsten Desserts, teuerstem Zitronenparfüm und in Seidenpapier eingeschlagenen kleinen Nettigkeiten. Untereinander aber zerfleischen sie sich, schneiden sich voneinander und von sich selbst ab. Die einzige gelingende Frauenfreundschaft zwischen Luise und ihrer Schwester Leni wird gezielt zerstört. Solidarität darf nicht entstehen, niemandem darf in Gänze vertraut werden.

„Die Gesellschaft glaubt Frauen nicht, deshalb glauben Frauen sich selbst nicht und schon gar nicht untereinander. Wie soll man da zusammenhalten?“, so Reich. Besonders das diffuse Verhältnis zur eigenen Wahrheit, durchwebt von Asynchronität, fehlender Logik und dem Verschwimmen von Fabelhaftigkeit und Realität, durchzieht den Roman auf eine Weise, die beim Lesenden schnell jedes Vertrauen in schlüssige Erklärungen erschüttert. Was passiert ist und was nicht, wissen in diesem Buch selbst Täter und Opfer nur sehr fragmentarisch.

Männerfiguren sucht man in Reichs Roman vergeblich, sogar die Polizisten sind Polizistinnen. „Das kam einfach so, das hat mich selbst gewundert“, lacht Annika Reich. „Jahrhunderte gab es keine Frauen in Büchern. Vielleicht war der Wal in den Seefahrtsgeschichten manchmal weiblich, und das war’s dann.“

Aber wie geschieht die Darstellung des (sehr lauten) Einflusses von Männern auf Frauen, ohne dass Männer vorkommen?

„Stellen Sie sich vor, auf einem alten Stickrahmen ist das Wort ‚Patriarchat‘ eingewebt. Ich wollte diesen Stickrahmen nicht von vorne betrachten, sondern von hinten. Die losen, verknoteten Fäden, die Frauenleben durchdringen, die nicht sofort sichtbar sind, aber alles zusammenhalten.“ Reich überlegt. „Deshalb habe ich das Wort ‚Anwesen‘ für diese Häuseransammlung der Frauen gewählt. Das Patriarchat ist anwesend, die Männer nicht.“

Wenn Reich über ihren Schreibprozess spricht, drückt sie größten Respekt vor der Autonomie, dem Eigenleben ihrer Figuren aus. Reich „entziehen sich Figuren“, sie „überraschen sie“, „zeigen sich ihr“, „verweigern ihr ihr Geheimwissen“. Die Autorin scheint sich selbst eher als Zeugin der Geschichte zu verstehen denn als ihre Erschafferin.

„Ich habe dieses Buch für Mütter, Schwestern, Cousinen geschrieben. Besonders aber für Töchter, und ganz besonders für meine.“

Jedem ihrer Bücher läge eine große, unbeantwortbare Frage zugrunde, der sie sich in keinem Gespräch und keinem Essay nähern könne. „Ich kann darüber nur einen Roman schreiben. Und wenn der fertig ist, ist es wie mit dem Ende einer großen Liebe. Ein Mal diese Frage und nie wieder.“ Welche Frage diesem Roman zugrunde liegt, das verrät sie, mit leisem Lächeln, nicht.

Nach der Lesung bleibt die laute Frage zurück, ab wann Frauen zerstörerisch sein können, ohne dass sie dafür die An- oder Abwesenheit von Männern brauchen. Für diese ganz eigene weibliche Destruktivität müssen wir uns wohl noch gedulden.

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