piwik no script img

Bildnis der Dichterin als einer lebenden Frau

Deportiert und ermordet wurde die Dichterin Gertrud Kolmar vor 80 Jahren. Ihr lesenswertes literarisches Porträt stellt die Germanistin Friederike Heimann am Dienstag in Hamburg vor

Weibliches Bildnis: Foto Gertrud Kolmars, entstanden um 1920 Foto: AKG Images

Von Benno Schirrmeister

Das Buch hat selbst auch schon wieder eine Geschichte. Aber die jetzt zu erzählen, würde zu weit führen, sagt Friederike Heimann, die Autorin. Zu persönlich, darüber ließe sich am Dienstagabend bei der Buchvorstellung in Hamburg sprechen. Jetzt aber würde das nur ablenken vom eigentlichen Anliegen, nämlich Gertrud Kolmar zu por­trätieren: „In der Feuerkette der Epoche“ lässt auf kluge Weise biografische Elemente, Verse, Briefe, historische Quellen und zeitgenössische Stimmen in einen Dialog treten, sodass ein persönliches Bild der 1894 geborenen Dichterin entsteht.

Und tatsächlich: In den gelungensten Kapiteln erhält das Projekt Züge einer geglückten Séance, würde man sagen, wäre nicht Spiritismus so gründlich diskreditiert. Es vermag, wie ein guter Roman, die Hauptfigur aus den Seiten treten zu lassen: flüchtig, aber greifbar, fern, aber sehr gegenwärtig. Vorstellen wird Heimann ihren gut 400 Seiten starken Essay im Rahmen des Hamburger „Jüdischen Salons“, zu dessen Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen sie seit 2014 gehört. Da wird man es vielleicht erfahren können.

Auch wenn Gertrud Kolmar ihr Leben vor allem in Berlin und Falkensee verbracht hat, ist Hamburg ein guter Ort für eine solche Beschwörung. So hat Ulla Hahn, die dort lebt, sich nachhaltig fürs Werk der Dichterin engagiert, schon früh auch einen Auswahlband herausgegeben. Auch beteiligt war sie daran, dass im Stadtteil Harvestehude, Frauenthal 13, eine Plakette daran erinnert, dass Gertrud Käthe Chodziesners, die unter dem Pseudonym Gertrud Kolmar publizierte, dort ein halbes Jahr lang bei der Familie des Kaufmanns Carl Alexander als Erzieherin gejobbt hatte, Logis inbegriffen.

Die Stellung dort sei „gar nicht angenehm gewesen“, heißt es zwar in einem Brief an ihre Schwester. Aber die Stadt fand sie cool, und die kurze Dauer des Aufenthalts sagt nichts über die Tiefe des Eindrucks: Zusammen mit den wenigen Monaten in Dijon zählt er zu den prägenden Ereignissen. Hamburg habe für Kolmar „noch einmal Aufbruch und den Versuch, neue Wege zu beschreiten“ bedeutet, schreibt Heimann.

Am 2. März 1943, vor 80 Jahren also, wurde Gertrud Kolmar von Berlin nach Auschwitz deportiert. Ob sie bei der Ankunft noch lebte, wann genau man sie ermordet hat, ist nirgends dokumentiert: Das Leben der bedeutenden Schriftstellerin löst sich auf in der Vernichtung, die Konturen der Einzelnen verwischen im jüdischen Kollektiv. Auf den Deportationslisten ist ihr Vorname um den Zwangsnamen „Sara“ ergänzt, der sie der Masse der Opfer angleicht. Und leider bestimmt diese von den Nazis geschaffene Perspektive oft genug noch die wohlmeinendsten Annäherung ans Werk: Gerade Biografien als zum Tode hin orientierte, lineare Erzählungen sind dafür anfällig. Weshalb Heimann ausdrücklich keine Biografie schreiben wollte.

Die Gattung des Porträts hingegen erlaubt, die Schichtungen der Zeit zu bearbeiten. Sie bringt das selbstbestimmte, in vielem ausdrücklich feministische Denken der Porträtierten zur Geltung und ermöglicht, Texte ins Zentrum stellen: Während die in herkömmlichen Lebensbeschreibungsbüchern sich oft genug reduziert finden auf Häppchen, die dem alleinigen Zweck dienen, eine Anekdote zu beglaubigen, lotst die mit einer Arbeit über Kolmar promovierte Literaturwissenschaftlerin Heimann ihre Le­se­r*inn­nen mitten hinein in die Gedichte und Erzählungen, setzt sie in spannungsreiche Bezüge zu Daten des Lebens, zu Selbstzeugnissen, aber eben auch zur Gegenwart. Denn ganz ausdrücklich aus der heraus schaut sie auf großzügige Ausschnitte des Werks. Sie leiht den Lesenden ihre Blicke, ihr Wissen auch, aber vor allem ihre Fragen: ein Ich, das sich nicht in den Vordergrund schiebt. Heimann erzählt davon, wie sie, mal zusammen mit Kolmars Neffen Ben, mal alleine, in Berlin und Falkensee die Häuser und Stätten aufsucht, an denen sich das Leben der Familie Chodziesner abgespielt hatte – oder das, was an sie heute dort noch erinnert.

Buchvorstellung: Di, 14. 3., 19.30 Uhr, Hamburg, Warburg-Haus, Heilwigstraße 116

Friederike Heimann: „In der Feuerkette der Epoche. Über Gertrud Kolmar“. Frankfurt, Jüdischer Verlag/Suhrkamp 2023, 462 S., 28 Euro; E-Book 23,99 Euro

Auf diese Weise legt sie gedankliche und sinnliche Ebenen der Lyrik frei. Manchmal scheint sie das komplexe Zwiegespräch regelrecht vorzulesen, das Kolmar in ihren Versen mit der Welt unternimmt: So lässt sie nachvollziehen, wie im Gedicht „Die Irre“ Revolutionsmotive und die apokalyptische Imagerie eines mittelalterlichen Jüngsten Gerichts verschmelzen, das sie beim Aufenthalt im Hôtel de Dieu von Beaune besichtigt, eines Gerichtshofes also, von dem „diese jüdische Betrachterin a priori“ ausgeschlossen ist, ohne „Aussicht auf das himmlische Jerusalem“. Ohne eine eigene Deutung dabei zu forcieren, vermag dieses Versenken in den Text ein Bewusstsein für die im Wortsinn intersektionale Lebenslage Kolmars zu wecken – und die Augen zu öffnen dafür, wie diese das Oeuvre mitformt.

Manchmal übertreibt sie’s auch. Der verständliche Wunsch, das Dichten dieser Cousine Walter Benjamins, die sich gern als Einsame stilisiert hat, in Kontakt zu bringen mit den intellektuellen Bewegungen ihrer Epoche, gerät zum wilden Pogo der Theorieversatzstücke: Denn außer Kolmars berühmten Vetter werden auch noch Roland Barthes, Georges Didi-Huberman und Émmanuel Levinas aufgeboten, wo es doch nur darum ginge, das berühmte Porträtfoto der Dichterin auszudeuten. Oder eben es in Bezug zu setzen zum Zyklus „Weibliches Bildnis“, dessen Singulartitel so eigenartig in Spannung tritt zu den 51 Frauenfiguren, die seine Gedichte auftreten lassen, als ginge es um eine unlyrisch-systematische Erfassung weiblicher Seinsweisen.

Manchmal, im Gegenteil, verkümmert die diskursanalytische Dimension: Banal bleibt, was Heimann zu Kolmars furiosem „Robespierre“-Zyklus anzumerken hat. Ohne Kenntnis der – und Sympathie für die – linken bis linksradikalen Lesarten der Grande Révolution betrachtet, auf die sich Kolmar stützt, muss er unbegreiflich und geradezu abstoßend wirken. Diese Aversion wenigstens zu artikulieren, wäre besser gewesen, als sie nur verdruckst anzudeuten und nach Entschuldigungen zu kramen. Die hat das Werk nämlich nicht nötig.

Die Gattung des Porträts bringt das feministische Denken der Hauptfigur zur Geltung und stellt ihre Texte ins Zentrum

Auch wirkt es literarhistorisch nicht überzeugend, wenn Heimann dem frühen Gedicht „Die Aztekin“ nur wegen seiner weitgehenden Reimlosigkeit „eine sperrige und moderne Form“ unterstellt. Seine fünfhebigen Jamben lassen sich problemlos als Blankverse deuten, was zum frühneuzeitlichen, epischen Sujet – inszeniert wird die Begegnung der Titelfigur mit einem Konquistadoren – ebenso passt wie zu Kolmars John-Milton-Begeisterung.

Aber das ist Mäkeln auf hohem Niveau. Den Befund, dass Kolmar nicht nur hier „koloniale wie patriarchale Sichtweisen und Bewertungsmuster“ dekonstruiert, macht es nicht unwahr. Und wichtiger ist allemal, dass Heimann eine gut lesbare Gesamtschau dieses Werks gelingt, das erzählerische und dramatische Schaffen inklusive. Sie lässt auch mal den bezaubernd bösen Witz Kolmars aufblitzen – etwa in ihrer Verarbeitung eines wohl amourösen Trips mit dem NS-affinen Schriftsteller Karl Joseph Keller nach Lübeck und an die Ostsee. Vor allem aber bietet sie dem langen Gedankenspiel Raum, der vielleicht romantischen Dimension dieses Werks, in virtuellen, bloß möglichen Begegnungen, in wirklich kunstvollen Szenen im Potenzialis: der Überlegung also, wie’s hätte sein können, die Literatur seit jeher im Totengespräch klärt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen