Nature Writing von Mary Hunter Austin: Brutalität und Schönheit
Mary Hunter Austin schrieb neugierige Essays über den US-amerikanischen Westen. Endlich sind sie in deutscher Übersetzung zu entdecken.
Im Südwesten der USA erstreckt sich ein Gebiet, das die US-amerikanischen Ureinwohner mal als „Land der verlorenen Grenzen“, dann wieder als „Land der verlorenen Flüsse“ und zuweilen auch als „Land der drei Jahreszeiten“ beschreiben.
Die US-amerikanische Schriftstellerin und Aktivistin Mary Hunter Austin hat fast ihr ganzes Leben im Westen der USA verbracht. Als sie 1903 ein Buch über die Mojave-Wüste veröffentlichte, entschied sie sich für eine vierte, ebenfalls indianische Bezeichnung. Sie sprach vom „Land of Little Rain“, dem Land, „wo wenig Regen fällt“.
120 Jahre nach dem Erscheinen hat dieser nun endlich ins Deutsche übersetzte Nature-Writing-Klassiker nichts von seiner Kraft und Poesie verloren. Die darin versammelten Essays lassen majestätische Landschaften vor dem inneren Auge entstehen, halten das existenzielle Kommen und Gehen des Lebens fest und dokumentieren ethnografisch das Leben derjenigen, die sich dieser Landschaft aussetzen.
Ein Wagnis, wie Hunter Austin auf den ersten Seiten deutlich macht. „Egal, wie weit Sie es wagen, ins Herz eines einsamen Landes vorzudringen, Leben und Tod werden stets vor Ihnen da sein.“
Mary Hunter Austin: „Wo wenig Regen fällt“. Aus dem Amerikanischen von Alexander Pechmann. Jung und Jung, Salzburg 2023. 224 Seiten, 24 Euro
Mary Hunter Austin wurde am 9. September 1868 in Illinois geboren. Sie studierte Psychologie und Botanik, zog 1888 mit ihrer Familie nach Kalifornien und lernte dort ihren späteren Ehemann Wallace Austin kennen. 1892 erschien ihre erste Kurzgeschichte, die vom Schicksal mexikanischer Wanderarbeiter handelt. In den folgenden Jahren erschienen weitere Texte über das Leben im amerikanischen Westen. Sie bilden die Grundlage für ihr Debüt „Land of Little Rain“, das bis heute das vibrierende Zentrum ihres Werkes bildet.
Das Plappern der Wasserläufe
Mehr als zehn Jahre hat Hunter Austin die Gebiete des amerikanischen Westens erkundet. Neben ihrer Tätigkeit als Lehrerin ist sie den Wasserwegen des Ceriso gefolgt, hat den Tafellandpfad beschritten, Bergstraßen und Ufersäume erforscht und die Siedlungen von Ureinwohnern und Goldsuchern bereist.
In ihren lebendigen Texten fängt sie das Leben in diesen unwirtlichen Gebieten ein, porträtiert die Kojoten („unser eigentlicher Wasserhexer“) und Kaninchen („ein dummes Volk“), die Wachteln („die glücklichsten Nutzer der Wasserwege“) und Raben („der am wenigsten abstoßende unter den heimischen Aasfressern“).
Sie schreibt über das „Plappern der Wasserläufe“, den „Geruch des Salzgraslandes“ und das blaue „Licht, das durch die Schneewände dringt“. Dabei werden wir Zeuge der existenziellen Dramen im Weltenlauf und begreifen mit jeder Zeile mehr von der grausamen Ökonomie der Natur.
Hunter Austin ging es nie darum, „dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten“, wie es Henry David Thoreau in seinem Klassiker „Walden oder Leben in den Wäldern“ formulierte. Sondern sie wollte ihrer Faszination nachgehen und von jenen lernen, denen diese Landschaft und Natur am vertrautesten ist. „Lebe lang genug mit einem Indianer und er wird oder die Wildtiere werden dir zeigen, dass jedes Gewächs auf diesem Gebiet einen Zweck erfüllt.“
Über das Leben lernen
Wenn sie hier Hymnen auf die Künste von Medizinmann Winnenap’ oder der Korbflechterin Seyavi singt, klingt ihr Engagement für die Rechte der Ureinwohner an. Zugleich dokumentiert sie das traurige Schicksal der Clans, „die einst über die Erde herrschten und nun zu bedauernswerten Anhängseln verkommen sind“.
Dabei gäbe es von den alten Indianerfrauen so viel „über das Leben zu lernen, das in keinen Büchern steht, Märchen, Geschichten über die Hungersnot, über Liebe, langes Leid und Sehnsucht, aber ohne Wehklagen“.
Hunter Austin war keine zurückgezogene Eigenbrötlerin, sie bewegte sich im Umfeld bedeutender Autor:innen ihrer Zeit, darunter Sinclair Lewis, Jack London, Henry James, William Butler Yeats, George Bernard Shaw und Herbert George Wells. Sie nahm an Demonstrationen von Suffragetten teil und engagierte sich neben Aktivistinnen wie Emma Goldman für Umwelt und Frauenrechte. Dieses Engagement, aber auch ihr Interesse für philosophische und spirituelle Fragen prägen ihr Werk.
Der moderne Mensch als Tölpel
Die in der großartigen Übersetzung von Alexander Pechmann ebenso poetische wie mitreißende Prosa der Amerikanerin ist durchdrungen vom Willen, die Welt in all ihrer Brutalität und Schönheit zu erfassen. Stellt sie gerade noch nüchtern auf die Regeln der Natur ab, ist sie kurz darauf beseelt von der göttlichen Kraft des Lebens.
Nur der moderne Mensch scheint für sie von alldem wenig zu verstehen. Als „großer Tölpel“ macht er Lärm und Dreck, versteht nichts vom Leben im Einklang mit der Natur.
Wohin diese Lebensart führt, hat Hunter Austin mit geradezu prophetischer Genauigkeit vorausgesagt. „In einer Umwelt aus asphaltierten Straßen züchten wir ein Volk heran, dessen Glaubensbekenntnis vor allem darin besteht, die Lebensweise anderer Menschen einzuschränken“. Ebenso hellsichtig wie barmherzig, ist dieses betörende Buch von Mary Hunter Austin ein säkulares Gebet an das Mysterium der Welt.
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