Studienplätze für Menschen mit Behinderung: Es geht auch ohne Abi
Die Hochschule im niedersächsischen Ottersberg gibt Menschen mit Behinderungen erstmals die Chance auf ein reguläres Studium der Kunst und Kultur.
Trotzdem kann Bramstedt seit dem Wintersemester ganz offiziell „Tanz und Theater im Sozialen“ an der Fachhochschule im bremennahen Ottersberg studieren, nachdem er zuvor schon Gasthörer dort war. „Es macht mich stolz und glücklich, überhaupt über den Campus gehen dürfen“, sagt Bramstedt: „Ich träume davon, dass es für mich wie auch für andere mehr berufliche Möglichkeiten gibt.“
Er ist einer von vier Menschen mit Lernschwierigkeiten, die nun in Vollzeit an der Hochschule für Künste im Sozialen (HKS) studieren. Drei lernen dasselbe wie Bramstedt, die vierte Studierende wurde für „Freie Bildende Kunst“ immatrikuliert. Alle vier bestanden die Begabten-Prüfung, die ein Studium auch ohne Abitur erlaubt. Ihr Ziel: ein Bachelor-Abschluss.
Möglich wurde das durch das zunächst auf drei Jahre angelegte Pilotprojekt „Artplus“, initiiert von „Eucrea“, einem deutschsprachigen, in Hamburg ansässigen Dachverband zu Kunst und Behinderung. Allerlei namhafte Ausbildungsinstitutionen beteiligen sich daran – neben Niedersachsen sind auch Hamburg, Bremen und Nordrhein-Westfalen bei der Initiative dabei, die neue Chancen der beruflichen Qualifizierung für Menschen mit Behinderung schaffen will. „Das stärkt einerseits Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein“, sagt Bramstedt, „andererseits wird man dadurch immer selbstständiger.“
„Ein Paradigmenwechsel“
„Der Weg, den wir gehen, stellt einen Paradigmenwechsel im Hochschulbetrieb dar“, sagt Angela Müller-Giannetti, Projektleiterin von Artplus. „Bis vor Kurzem ist man noch davon ausgegangen, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht bildungsfähig sind und ihnen daher auch keine Hochschulbildung zusteht.“ Amelie Gerdes etwa hat nicht nur kein Abitur, sie hat auch Trisomie 21. Trotzdem will sie sich nicht einfach in die schlecht bezahlte Arbeit einer Werkstatt abschieben lassen: „Da würde ich unter meinen Fähigkeiten bleiben“, sagt sie. Und sie war ja auch schon bei den Jungen Akteur:innen im Theater Bremen zu sehen. Und in der ARD.
Alles in allem fördert Artplus derzeit 16 Studierende in den Bereichen Musik, bildende und darstellende Künste in insgesamt neun Ausbildungsstätten. Die Studierenden mit Beeinträchtigung an der HKS bekommen Assistierende zur Seite gestellt, die auch selbst dort eingeschrieben sind. „Wissenschaftliches Arbeiten ist die größte Herausforderung“, sagt Hans-Joachim Reich, Professor für Performance, Tanz, Bewegung – theoretische Inhalte müssten ganz anders vermittelt werden. „Die Arbeitsweise muss deutlicher rübergebracht werden“, sagt Bramstedt dazu, „damit ich sie leichter verstehe.“
Reich hat für das Studium im Fach „Bewegungsanalyse“ für abstrakte Begriffe wie Kraft, Raum und Zeit Bilder herausgesucht. Die Frage, wie wissenschaftliche Texte verständlich gemacht werden können, ist aber noch nicht ganz beantwortet: „Ich finde es schön, dass die Studierenden sehen, dass wir noch nicht fertig sind“, sagt Reich. „Es ist eine gemeinsame Aufgabe, das hinzukriegen.“
Die HKS gehört europaweit zu den größten Ausbildungsstätten für Kunsttherapie und bietet insgesamt vier Bachelor- und einen Master-Studiengang an. Die Ottersberger Absolvent:innen arbeiten in Kliniken, in der Jugend-, Behinderten- und Altenhilfe, mit Suchtkranken und Straffälligen, in soziokulturellen Projekten, Theatern und als freie Künstler:innen und Kunsttherapeut:innen. Nun hat man sich an der HKS zum Ziel gesetzt, inklusive Hochschule zu werden.
Doch selbstständige Kreative mit Behinderungen sind in der deutschen Kulturlandschaft „noch immer eine Ausnahme“, sagt Müller-Giannetti – es gebe kaum Angebote für eine künstlerische Qualifikation für sie. So bleiben sie meist auf künstlerische Jobs innerhalb der Behindertenhilfe oder ehrenamtliche Angebote im Freizeitbereich beschränkt.
„Künstlerische Ausbildungsinstitutionen haben häufig wenig Berührungspunkte mit Interessierten mit Behinderung“, heißt es bei Eucrea. Und sollte es doch mal zu einer Bewerbung kommen, „entstehen viele Fragen, die die Hochschulen alleine oft nicht beantworten oder leisten können“. Dabei hat sich Deutschland mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, „ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen zu errichten“. Auf „allen“ Ebenen, also auch in der akademischen Ausbildung.
Doch entsprechende Angebote in der Kulturbranche gibt es in der Regel nur für Menschen mit physischen Beeinträchtigungen, auch den Inklusionsbeauftragten der Hochschulen fehlt es meist an den notwendigen Ressourcen. „Oft wird gesagt: Du hast schon eine Behinderung – und dann willst du noch in ein so extrem schwieriges Berufsfeld“, sagt Müller-Giannetti – diesen Menschen werde oft nicht zutraut, sich in der Gesellschaft behaupten zu können.
Angela Müller-Giannetti, Projektleiterin
Dabei sei die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt durchaus da, weiß die Projektleiterin: „Theater, Filmproduktionen, Tanz-Kompanien und andere kulturelle Institutionen möchten ihre Ensembles divers besetzen. Doch es fehlt an professionell ausgebildeten Kunstschaffenden.“
Amelie Gerdes will das ändern, sie wirkte als Schauspielerin auch schon in der Komödie „Geheimkommando Familie“ mit. Jetzt träumt sie davon, so wie Bramstedt auch mal in einem „Tatort“ mitspielen zu können. „Ich brauche Herausforderung“, sagt sie.
An der HKS geht man davon aus, dass die Studierenden mit Lernschwierigkeiten eher neun bis zehn Semester brauchen, die Bachelorarbeit könnte vielleicht durch eine Performance oder mündliche Prüfungen ersetzt werden. Gerdes ist sich sicher, dass sie das alles schafft: „Ich habe so einen Sturkopf“, sagt sie. „Und ich weiß ganz genau, was ich will.“
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