Soziologe über Israels neue Regierung: „Tel Aviv war eine Illusion“
In Israel geht es gerade nicht um einen Regierungswechsel, sondern um einen Regimewechsel, sagt der Soziologe Sznaider. Ein Gespräch über die Lage.
wochentaz: Herr Sznaider, in Israel demonstrieren seit Wochen Zehntausende gegen die geplante Justizreform, in der Knesset kam es zu tumultartigen Szenen und Tränen. Präsident Jitzchak Herzog warnte nun gar vor einem Bürgerkrieg. Realistisch oder überzogen?
Natan Sznaider: Realistisch und überzogen. Bürgerkrieg hat was sehr Dramatisches, man denkt an Falangisten, die durch die Dörfer ziehen und Leute erschießen. So weit wird es nicht kommen. Aber es gibt einen ideellen Bürgerkrieg. Auf Hebräisch heißt Bürgerkrieg Bruderkrieg und hat die Konnotation aus den Ereignissen des zweiten Tempels, wo die Römer Jerusalem belagerten und die Juden sich gegenseitig bekämpften.
Das liegt mehr als 2.000 Jahre zurück, spielt aber eine große Rolle in der jüdischen Geschichte.
Ja, das sind die historischen Assoziationen, die viele hier abrufen, wenn sie den Begriff hören. Es gibt einen ideellen Bruderkrieg, weil es um verschiedene Beschreibungen der israelischen Lebenswelten geht, die so auseinanderklaffen, dass sie kaum noch miteinander ins Gespräch kommen können.
ist Professor für Soziologie in Tel Aviv. Sein letztes Buch, „Fluchtpunkte der Erinnerung“ (2022), war für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert.
Sie sagen lebensweltlich sind die Menschen so weit auseinander. Ist das auch eine Klassenfrage?
Das hängt miteinander zusammen. Die Demonstrierenden sind eher europäisch geprägt und kommen aus der Mittel- und Oberschicht. Sie sind meist säkular und orientieren sich an kosmopolitischen und universellen Kategorien, sind Träger des kulturellen Kapitals und des Finanzkapitals. Auch die Wirtschaftselite beteiligt sich an dem Protest, die sind ja keine linken Anarchisten, so wie es von der anderen Seite dargestellt wird, sondern, wenn man so will, das Establishment. Und sie haben Angst vor den revolutionären, fast schon anarchistischen Kräften der rechten Seite. So gesehen ist diese Protestbewegung, zu der ich auch gehöre, eine eher konservative Bewegung.
Heißt das, der nationalkonservative Likud Netanjahus und seine rechtsextremen Koalitionspartner können sich nun als die progressiven Kräfte darstellen?
Das machen sie sogar! In der Knesset sagte ein Parlamentarier des Likud, er habe die Demonstration gesehen und es sei ihm fast schwindelig geworden von den ganzen Rolexen, die er da gesehen hätte. Das wurde dann von einigen als politische Poetik verteidigt. Er wollte sagen, wir sind das wahre, authentische Israel. Wir sind die, die von den Eliten unterdrückt und diskriminiert wurden, wir sind die orientalische Bevölkerung. Das heißt also, diese rechtsradikale revolutionäre Bewegung benutzt Argumente, die, das ist fast ironisch, von der kritischen Soziologie in diesem Land vor 20 Jahren als eine linke Position unterrichtet worden sind.
Diesen kruden Begriff von progressiv findet man in rechten Bewegungen weltweit, in deren verschwörungstheoretischem Narrativ das Establishment als Gegenpol und Ort allen Übels dargestellt wird. Allerdings ist das fast immer antisemitisch konnotiert. Dass nun in Israel ein ähnliches Narrativ gegen die kosmopolitischen Juden benutzt wird, ist einigermaßen verrückt.
Diese Bewegung – die orthodoxen Parteien und die rechtsradikale Partei – hat einen anderen Begriff von Judentum. Einen, der vor allem mit Souveränität und Macht verknüpft ist und sich abgrenzt von einem mehr diasporisch konnotierten Judentum, das über die Machtlosigkeit eine kosmopolitische Ethik entwickelt hat. Diese beiden Stränge treffen gerade aufeinander. Diese Form der Souveränitätskontrolle ist Teil der jüdischen Tradition, man kennt das aus der Schrift als Konflikt zwischen Königen und Propheten, und die Aufgabe der Propheten war immer, die politische Souveränität im Namen Gottes unter Kontrolle zu halten, sich selbst aber nicht als Gott zu definieren. Was nun geschieht, und die Leute spüren das sehr genau, ist eine Redefinition des Judentums von der orthodoxen Seite, die sagt: Die jüdische Gesetzgebung, die gemeinschaftserhaltend in der Diaspora war, wird jetzt übertragen auf eine souveräne Staatsform.
Einige Israelkritiker verwechseln diese neue sehr rechte Bewegung mit dem Zionismus als solchem.
Es geht nicht mehr um Ethnokratie, um die Vorherrschaft des Jüdischen, sondern es geht um Theokratie: um die Vorherrschaft eines jüdischen Fundamentalismus, der dem Judentum eigentlich fremd war. Er tritt mit einem wahnsinnigen Misstrauen gegen die Institutionen auf, sogar gegen die Armee.
Anarchistische Theokraten?
Es ist kein Zufall, dass die homophoben und rassistischen Ultrarechten von Smotrich und Ben-Gvir, deren Basis sich in den letzten 20 Jahren in den besetzten Gebieten entwickelt hat, grundtief anarchistisch sind, aber auf der anderen Seite einen Souveränitätsbegriff haben, der nichts mit klassischen Souveränitätsbegriffen, die auf Gewaltenteilung gründen, zu tun hat, sondern ausschließlich über Machtausübung definiert ist. Diese Leute waren marginal in der israelischen Gesellschaft und jetzt haben sie das nationale Sicherheitsministerium, das Finanzministerium, die Kontrolle über die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten, den Vorsitz im Rechtsausschuss und der Polizeichef weiß gar nicht mehr, wie er sich dieser rechtsradikalen politischen Kontrolle entziehen kann. Man weiß, wo dieser Weg hinführt.
Siehe Polen und Ungarn?
Zuerst will man die Kontrolle über die Judikative, das hat am Montag begonnen, dann geht es um die Unabhängigkeit von Medien, Wissenschaft und Kultur. Das Gefühl ist: Es hat hier keinen Regierungswechsel gegeben, sondern einen Regimewechsel.
Wann hat der begonnen? Nicht erst 2021, als Raketen auf Tel Aviv fielen. Oder ist Netanjahu da am Ende selbst nur reingestolpert?
Das ist ein viel längerer Prozess, der 1967 begonnen hat.
Mit dem Sechstagekrieg.
Ja, man hat die Eroberung des Westjordanlandes politisch nicht umsetzen können. Dann das Scheitern des Osloer Friedensabkommens in den 90ern und die Ermordung von Jitzhak Rabin 1995 – sie markiert den Wendepunkt. Das Milieu, das diesen Mord veranlasst hat, sitzt jetzt in der Regierung. Das heißt eigentlich, bereits 1995 gab es einen Bürgerkrieg, der nach drei Schüssen beendet war und die andere Seite hat gewonnen. Ein Jahr später wurde Netanjahu zum ersten Mal gewählt. Wir erinnern uns an Netanjahu auf dem Balkon in Jerusalem, wie er hetzt gegen Rabin. Ihn als Verräter bezeichnet. Auch ein Menachem Begin kam aus dem Likud, aber dennoch bedeutete sein Sieg 1977 keinen Regimewechsel, weil er großen Respekt vor dem Gerichtswesen hatte. Und heute findet man sich plötzlich mit rechtskonservativen Leuten wie Bennett und Lieberman, mit denen früher das linke Milieu nichts zu tun haben wollte, auf denselben Demonstrationen wieder.
Es sind ungeheuer viele Menschen ganz unterschiedlicher politischer Herkunft auf der Straße; und dennoch gibt es zwei Israels.
Was man hier als das zweite Israel bezeichnet, also das „orientalische“, das religiöse, das orthodoxe, kommt einem sehr deutlich vor Augen, wenn man in Jerusalem aus dem Zug steigt. In Tel Aviv hingegen konnte man alles haben – Hightech, Gay-Pride, großartige Theater, gute Universitäten, alles. Wir lebten in der Illusion, das sei Israel, aber Tel Aviv war eine Illusion. In Wahrheit gibt es eine immer größere Bevölkerung, die eine ungeheure Abneigung gegen alles hat, was Tel Aviv, das Babylon, repräsentiert.
Bei den Wahlen im November haben in Tel Aviv die liberale Partei von Lapid (Jesch Atid), die Arbeitspartei sowie die linksliberale Meretz Partei, die seit der Staatsgründung im Parlament vertreten war, aber nun erstmals den Einzug nicht geschafft hat, die absolute Mehrheit.
Die Rechte reklamiert das „orientalische“ Israel als das wahre für sich?
Es gibt freilich gleichzeitig den Rassismus gegen das Orientalische. Aber einer der Träume des Zionismus war, dass man im Nahen Osten ankommt, was nun auf verquere Weise real wird. Wir entfernen uns von Europa und werden Libanon, Jordanien oder Syrien ähnlicher.
Eva Illouz hat kürzlich im Spiegel angedeutet, Deutschland müsse Israel „zur Ordnung rufen“. Was halten Sie davon?
Ich habe nichts dagegen, dass die USA, die ein wichtiger Partner sind, sagen, was sie von der rechtsradikalen Bewegung halten. Aber „zur Ordnung rufen“, na ja, es geht nicht um irgendwelche proisraelischen Komplexe und irgendwelche angeblichen Katechismen gegenüber Israel, was hier sicher gemeint war. Schon gar nicht geht es um deutsche Erinnerungspolitik.
Thema verfehlt?
Ja. Das Problem ist, dass derzeit nicht mal mehr der Pragmatismus erkennbar ist, der stets Teil rechter israelischer Politik war. Wenn nun aus diesem Land Geld abgezogen würde, die junge Elite nicht mehr bereit wäre, hier zu leben und militärisch zu dienen, dann wäre das ein ungeheuer großes Problem. Es ist wirklich gefährlich, was diese Menschen mit uns machen. Wenn die Existenz Israels in Gefahr ist, habe ich kein Problem damit, wenn Druck aus dem Ausland kommt. Da geht es aber nicht um die Frage, ob Roger Waters hier auftritt. Hier geht es um ernsthafte Politik, nicht um das Geschnatter des BDS.
Auch im Westjordanland und in Gaza spitzt sich die Lage zu. Der Islamische Dschihad, der seine Terroristen über Onlineplattformen rekrutiert, kann nicht von der Hamas und schon gar nicht von der PLO kontrolliert werden. Auch Netanjahu galt ja bei aller Kritik eher als Sicherheitsarchitekt denn als Kriegstreiber, doch nun fragt man sich, hat er die Sache noch im Griff?
Keiner kann ihn derzeit einordnen. Auch die Leute, die seine Politik aus pragmatischen Gründen irgendwie okay fanden, sehen: he’s losing it. Die radikale Rechte mit ihren Endzeitfantasien treibt ihn vor sich her und ihre Ideen sind nicht bloß Rhetorik.
Glauben Sie, Netanjahu wird die einigermaßen positive Entwicklung in den Beziehungen mit den arabischen Nachbarn aufs Spiel setzen?
Ich glaube nicht, dass er sie aufs Spiel setzen muss. Es kann sogar in dieser verrückten Regierung ein Abkommen mit Saudi-Arabien folgen. Wenn es zu einer dritten Intifada kommt, ist das diesen Staaten relativ egal.
Weil sie sich nicht für die Palästinenser interessieren?
Genau. Man sagt dann, „Jerusalem muss von den Ungläubigen befreit werden“, und macht weiter Geschäfte. So ist nahöstliche Politik. Allianzen werden dauernd neu definiert. Es gibt keine transarabische Solidarität. Nichtsdestotrotz muss man sehen, dass der Konflikt theologisch aufgeladen ist.
Wird es zu Neuwahlen kommen?
Nein, sie werden durchregieren. Die Bande könnte sogar soweit kommen, dass sie die Wahlen abschafft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ost-Preise nur für Wessis
Nur zu Besuch
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Verzicht auf Pädagogen in Bremer Kitas
Der Gärtner und die Yogalehrerin sollen einspringen
Grüne Parteitagsbeschlüsse
Gerade noch mal abgeräumt